Quelle: FHXB-Museum

Unsichtbare Nachbarn

Warschauer Straße 12 | Quelle: FHXB-Museum
Verschwunden sind die Spuren jüdischer Nachbarn in der Warschauer Straße 12. / Quelle: FHXB-Museum /

Jüdisches Leben in der Warschauer Straße.

Von

„Des Kaisers und Königs Majestät haben der von der Spree am Oberbaum bis zur Frankfurter Allee führenden Straße No. 11 den Namen Warschauerstraße gegeben“ stand am 31. März 1874 im Berliner Amtsblatt.
Böttchermeister Borchhardt baute sein Haus an der Nummer 1. Am 18. April 1874 waren drei Häuser in der Realisation. Am 16. Oktober 1887 erwarb Kaufmann Guttman Grundstücke von über 10.000 Quadratmeter. Nun machte der Häuserbau an der Straße einen großen Sprung und erst recht, als im Juli 1888 Grundstücke der Nummern 1 bis 4 an den Kaufmann Cassirer gingen.

Tüchtige Nachbarn

Ende der 1890er Jahre waren alle Grundstücke an der Warschauer Straße verpachtet und die Straße samt ihrer Umgebung eine Wohnstadt. Die meisten dieser überwiegend armen Neuberliner suchten in Berlin eine Perspektive für ihr Leben. 1931 wohnten über 70 Familien jüdischer Herkunft an der Warschauer Straße. Eine koschere Fleischerei bot gute Ware an. 15 jüdische Ärzte hatten mit zwei Zahnärzten hier ihre Praxis. Ein jüdischer Rechtsanwalt vertrat hier seine Klienten. Ignatz Dlusmewslo an der Warschauer Straße 13 war für die Nachbarn ein „Wegweiser“ für neue technische Möglichkeiten. Nach der Funkausstellung von 1928 präsentierte er in seinem Radio-Fachgeschäft alles „was es an Neuheiten vom einfachsten Detektor-Gerät bis zum kompliziertesten Acht- und Neunröhrenempfänger gab“. Musik klang aus einer „eigenen Sende- und Besprechungsanlage“.
Die Lautsprecher waren als Ölgemälde dekoriert, berichtete der Ohren- und Augenzeuge Gerhard Hein. Dieser war ein Radiobastler, der sich für ein Miniradio interessierte, dass in eine Kokosnuss passte. Die anderen Geräte waren für ihn viel zu teuer.

Unwillige Nachbarn

Gerhard Hein arbeitete bei der „Propellerfabrik“ für Flugzeuge an der Warschauer Straße 58. Im Stillen war er aber mit einer Gruppe der SPD-nahen „Sozialistischen Arbeiterjugend“ zusammen. Im Kiez um die Gürtel- und Scharnweberstraße klebten sie im Sommer 1933 Zettel mit Parolen gegen das NS-Regime. Hein begegnete dabei Mitgliedern der Gruppe „Neu Beginnen“, viele von ihnen mit jüdischem Hintergrund. Hein schloss sich ihnen an, war Kurier und sammelte vor allem Informationen. 1934 war die Stimmung in der Frauenabteilung des Glühlampenwerks Osram wegen zu niedriger Löhne schlecht. Viele Frauen sympathisierten mit der SPD oder der KPD. Dennoch, sich gegen das NS-System zu stellen, getrauten sie sich nicht. Die Gruppe um Hein blieb bis Ende 1936 von der Gestapo unentdeckt, wurde dann verraten und 1937 zu langen Zuchthausstrafen verurteilt.

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Stolperstein der Elsa Nawroth aus der Warschauer Straße 67 | Quelle: FHXB-Museum
Elsa Nawroth wohnte in der Warschauer Straße 67, Familie Becker lebte fast nebenan in der Nr 61. Für viele andere gibt es (noch) keine Stolpersteine. / Quelle: FHXB-Museum /

Bedrohte Nachbarn

Die Eheleute Silberkleid wohnten in der Warschauer Straße 8. Wegen antisemitischer Anfeindungen verkauften sie 1930 den Textilwarenladen in der Nummer 24. Doch um Deutschland zu verlassen, fehlte ihnen das Geld. Am 9. November 1938 kam Blockwart Pinnow zur „Beschlagnahme“ von Zinkwannen, Zinnkrügen, Radio- und Fotoapparaten in ihre Wohnung. Unter seiner Führung zerstörte ein SA-Trupp ein Gardinen- und Wäschegeschäft an der Nummer 72. Danach übernahm Pinnow diese Firma bis Kriegsende. Sein Sohn ging in der Lasdehner Straße zur Schule. Ungestraft verprügelte er dort seine jüdischen Mitschüler.

Quelle: FHXB-Museum
/ Quelle: FHXB-Museum /

 

Vertriebene Nachbarn

Die Nummern 34 bis 38 galten als Adresse für Einrichtungsgegenstände, wie es die Firma „Küchen-Masserer“ war. Gute und preisgünstige Möbel bot „A. M. Moeller & Co“ an. 1910 gründeten Max Moeller und Paul Cohn ihren Möbelladen als „Möbel-Engros-Handelsverbund“. Die Firma hatte 7 Angestellte, verfügte über 150 Quadratmeter Laden- und 300 Quadratmeter Lagerfläche und erzielte schon im Juni 1910 einen Gewinn von 60.000 Goldmark. Leider erlitt Paul Cohn 1916 einen Verlust der Sehkraft des linken Auges und eine Netzhautablösung des rechten Auges. Dann starb sein Geschäftspartner Max Moeller am 31. März 1927. Am 9. März 1938 wurde Paul Cohn von der Industrie- und Handelskammer zu Berlin angeschrieben. Mit der Begründung: „Das Unternehmen ist seit Jahren kleingewerblich“, leitete ein Herr Grasshoff die Löschung von „Moeller & Co“ ein. Cohn antwortete am 1. April 1938: „Es ist richtig, daß mein Geschäft in letzter Zeit zurückgegangen ist“. Er gab seine gesundheitlichen Probleme als Grund an und war mit einer Löschung zum 31. August 1938 einverstanden. Von der Handelskammer kam die Antwort: „Da in keiner Weise dargetan wird, wie sich das Unternehmen in absehbarer Zeit wieder vollkaufmännisch entwickeln sollte, können wir eine Aussetzung des Löschverfahrens nicht befürworten“. Cohn antwortete daraufhin: „Die Löschung entzieht mir auch die geringste Möglichkeit einer weiteren Betätigung, da zwar mein Firmenname, aber nicht meine eigene Person bekannt sind. Irgendwie ist eine Tarnung durch meinen Namen niemals beabsichtigt gewesen oder beabsichtigt, denn ich habe selbst die Firma im Jahre 1910 gegründet. Durch die Entziehung der Firma wird mir nun jede Arbeitsmöglichkeit aufgehoben, so daß ich fürchte, dann der öffentlichen Hand zur Last zu fallen, während ich bis heute außer privater Hilfe keinerlei Wohlfahrtshilfe in Anspruch genommen habe.“ Er beantragte die Aussetzung des Verfahrens bis zum 31. Dezember 1938. Am 23. Juli 1938 verlor er seine Firma. Paul Cohn konnte Deutschland mit der Hilfe seiner Familie verlassen.

Verlorene Heimat

Fast mittellos verließ Margarete Masserer – Gründerin der „Küchen Masserer – Lackierwerkstätte und Möbelhandlung“, 1936 „ihr“ Deutschland. In den Räumen der Möbelfabrik „Heine-Schlafzimmer“, an der Nummer 57/58, waren ab 1941 polnische Zwangsarbeiterinnen einquartiert. Der einstige Besitzer von „Heine-Schlafzimmer“ hieß Heine und war jüdisch. Mehr ist von ihm nicht überliefert. Das Ehepaar Silberkleid wurde im November 1941 nach Minsk deportiert, dessen weiteres Schicksal liegt im Dunklen. Neben den Transportlisten für die Lager wurden Listen über die freigewordenen Wohnungen Deportierter geführt. In der Warschauer Straße waren das Wohnungen in den Häusern der Nummern 5, 8, 22, 26, 30, 51, 80, 86, 88, 89. Über 100 andere Friedrichshainer Standorte jüdischen Lebens konnten bislang ermittelt werden.

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