Linn Kaldinski vom Verein Über den Tellerrand / Foto: Giovanni Lo Curto

Kochbananen und Schnitzel

Linn Kaldinski vom Verein Über den Tellerrand / Foto: Giovanni Lo Curto

Linn Kaldinski – eine Friedrichshainerin beim Verein „Über den Tellerrand“.

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Auf meine Anfrage meldet sich Linn Kaldinski: „Echte Friedrichshainerin, dort geboren, aufgewachsen und Wohnort noch immer dort.“ Wer kann von sich behaupten, eine Friedrichshainerin in dieser Kontinuität zu kennen? Zwar gab es in dieser Beständigkeit einige Unterbrechungen, wie sich herausstellt, aber dennoch ist Linn bestens dazu geeignet, den Verein Über den Tellerrand vorzustellen, über den wir schon seit längerem berichten wollten. Dieser ist nach dem Erfolg einer Initiative entstanden, die sich schon vor der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge gegründet hat. Berlin und damit auch Friedrichshain ist seit ehedem ein Zuzugsort. Wer lange genug in Friedrichshain lebt, wird dies bestätigen können. Aber auch hier steht man seit Öffnung der Grenze für Flüchtlinge vor ganz neuen Herausforderungen – aber auch vor neuen Lösungsansätzen.

Linn Kaldinski am Arbeitsplatz / Foto: Giovanni Lo Curto
Management war früher eine Sache von großen Schreibtischen, Papierstapeln, Terminkalendern und Telefonen. Heute reicht ein Laptop. / Foto: Giovanni Lo Curto /

Kindheit in Friedrichshain und Afrika

Ich treffe mich mit Linn, in einem Café. Sie trägt ein hübsches Sommerkleid und hat ihr langes hellblondes Haar nach hinten gebunden. Linn kam in Friedrichshain zur Welt und lebte mit ihren Eltern in der Modersohnstraße bis sie eine Arbeit in der Entwicklungshilfe in Kamerun annahmen und die ganze Familie dorthin zog. „Wir blieben dort bis zu meiner Einschulung“, berichtet Linn. An die Vorschule in einem Dorf kann sie sich noch gut erinnern. „Wir lernten auf Französisch die ersten Buchstaben.“
Zurück ging es wieder nach Friedrichshain, wo die Familie erst wieder in der Modersohnstraße und dann in der Marchlewskistraße wohnte. „Nach dem Abitur wusste ich noch nicht, was ich machen sollte“, gibt sie zu. Eine mehrtägige Reise nach London, die ihr von der Mutter spendiert worden war, half bei der Entscheidung. „Die Stadt hat mir gefallen“, sagt sie und strahlt in Erinnerung daran. Linn beschloss, dort ein Jahr als Au-Pair in einer Gastfamilie zu verbringen, um ein gutes Englisch zu lernen und ihre Zukunft zu planen. Danach studierte sie in Dresden Soziologie und Sozialpädagogik und ging nach dem Bachelor nach Trier, um dort in Wirtschaftssoziologie ihre Masterprüfung abzulegen.

Fachfrau in einem modernen Wissensgebiet

Was machen Wirtschaftssoziologen? Viele arbeiten im Bereich Personal, in unterschiedlichsten Vereinen oder bleiben an den Universitäten und forschen zum Thema Arbeit, Organisationen, Unternehmen und wie diese sich mit der Zeit verändern.
Linn persönlich interessiert sich überwiegend für Themen der Nachhaltigkeit, speziell den sozialen Aspekten. Ressourcenschonung bedeutet in diesem Falle Schonung der Ressource Mensch, ob nun in den Produktionsstätten in Bangladesch oder in Deutschland im Büro. „Es ist ein spannendes Thema, das ich nach wie vor verfolge“, sagt mir Linn.

Über den Tellerrand / Foto: Giovanni Lo Curto
Eine typische Berliner Ecke lädt zu selbstgemachter Gastlichkeit ein und fordert zum Mitmachen auf.
/ Foto: Giovanni Lo Curto /

Unerwarteter Berufseinstieg

Bevor sie in diesem Bereich tätig werden konnte, stieß Linn im letzten Jahr auf die Anzeige eines Vereins, die sie neugierig machte: Betreuung von Ehrenamtlichen im Verein Über den Tellerrand. Dieser Verein hat eine beachtliche Erfolgsgeschichte hinter sich.
Die Ursachen dafür zu bekämpfen, dass Menschen aus ihren Ländern zu uns fliehen, ist Aufgabe der Politiker – und man hat nicht immer den Eindruck, dass diese sich der Verantwortung tatsächlich stellen. Wichtig ist es aber auch, die Menschen, die hier angekommen sind, nicht einfach sich selbst und den Behörden zu überlassen. Schon sehr viel länger als seit zwei Jahren fliehen Menschen aus unterschiedlichen Weltgegenden nach Deutschland. Oft sind sie nicht willkommen. Wer kann sich nicht an die Bilder von 2013 erinnern, als Flüchtlinge für Monate den Oranienplatz in Kreuzberg besetzten, weil sie auf ihre prekäre Situation in Deutschland aufmerksam machen wollten?
Studenten der Freien Universität, die neugierig auf die Besetzer waren, versuchten mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Damit dies einfacher passierte, brachten sie ein paar Kochtöpfe, mobile Kochgeräte und Lebensmittel mit. Kochen und Essen ist etwas Angenehmes, und es ist sehr kommunikativ. In der Tat, alle merkten, dass man sich schnell näher kam. Die Koch-Treffs wurden wiederholt und es entstand daraus ein Mini-Kochbuch, in dem Geflüchtete neben ihren mitgebrachten Rezepten ihre Geschichte erzählten.

Schnippelpartys / Foto: Über den Tellerrand
Ob bei Kindergeburtstagen, Seniorentreffs oder bei Über den Tellerrand: Schnippelpartys sorgen überall für gute Stimmung. / Foto: Über den Tellerrand /

Eine Geschäftsidee

Nach diesen ersten hoffnungsvollen Erlebnissen beschloss die Initiative, mit dieser Idee fortzufahren. Im Mai 2014 wurde der erste Kochkurs gestartet. Seit der Gründung sind zwei Kochbücher herausgegeben worden, die bei Über den Tellerrand erstanden werden können.
Die ursprüngliche Idee des gemeinsamen Kochens erfreute sich immer größerer Nachfrage. Zahlreiche Anfragen gingen ein, viele wollten wissen, ob man mitkochen darf oder wie man selbst eine solche Initiative gründen kann. Alles benötigte einen institutionellen Rahmen, Vereins- und GmbH-Gründung folgten bereits ein Jahr nach dem gemeinsamen Kochen auf dem Oranienplatz. Im November 2015 öffnete der Verein Räume in der Schöneberger Roßbachstraße 6 den „Kitchen Hub“ und hatte damit ein eigenes Zuhause gefunden.
Dass es beim Kochen bei Über den Tellerrand wirklich auch qualitätsvoll zugeht, beweist die Tatsache, dass die syrisch-ägyptische Koch-Crew im Oktober 2015 für anderthalb Monate die „Kantine 9“ in der Kreuzberger Markthalle 9 übernahm und die Jury der „Berliner Köche“ ebenfalls im Oktober 2015 dem Verein den Titel „Gastronomischer Innovator“ verlieh.
Erkennt man denn Fortschritte, wie die Leute bei uns ankommen? „Ja, natürlich, schon an der Entwicklung der Sprachkenntnisse“, erwidert Linn, und verweist auf andere Aktivitäten des Vereins. Über den Tellerrand ist inzwischen weitaus mehr als nur ein Kochprojekt und hat seine Tätigkeit auch auf weitere Gebiete verlagert, die Spaß machen. Es gibt einen Chor, eine Fußballmannschaft, regelmäßige Workshops zu unterschiedlichen Themen, Sprach-Tandems, ein Näh­café, einen Garten-Workshop in einem Nachbarschafts­garten, einen Zeichenzirkel und anderes mehr. Der Monatsflyer, der von Über den Tellerrand herausgegeben wird, kann sich sehen lassen.

Nachbarschaftsgarten / Foto: Giovanni Lo Curto

Integration funktioniert durch gemeinsame Erlebnisse, zum Beispiel den Nachbarschaftsgarten gemeinsam einzurichten, zu pflegen, zu ernten und die Ernte zu verspeisen. / Foto: Giovanni Lo Curto /
Der Tellerrand-Honig von hauseigenen Bienen / Foto: Giovanni Lo Curto
Hauseigene Bienen machen Arbeit, aber sorgen auch für den hauseigenen Honig. / Foto: Giovanni Lo Curto /

Werte, die man teilen kann

Den Initiatoren und Mitarbeitern geht es gar nicht um großartige politische Statements, sondern sie haben einen ganz einfachen Ansatz: Wir sehen vor uns nicht irgendwelche Leute, denen geholfen werden muss, sondern interessante Menschen und begegnen ihnen auf Augenhöhe. Entsprechend ist die Philosophie, die dahinter steckt: „Wir glauben an eine Welt, die bestimmt wird von sozialem Zusammenhalt, gegenseitigem Respekt und Offenheit gegenüber Vielfalt.“
Natürlich geht es dabei auch um Unterstützung. Ein Programm organisiert 1 : 1 Patenschaften mit deutschen Arbeitnehmern, um den Geflüchteten Arbeitsstellen und Ausbildungsplätze zu vermitteln. Sie helfen auch bei der Zusammenstellung von Bewerbungsunterlagen und bei der Vorbereitung auf Bewerbungsgespräche.

Kitchen on the Run in Frankreich / Foto: Über den Tellerrand
Der Kitchen on the Run-Container in Marseille. / Foto: Über den Tellerrand /

Die Idee macht Schule

Eine mobile Variante von Über den Tellerrand ist der Koch-Container „Kitchen on The Run“, der durch europäische Städte gefahren wird und überall, wo er Station macht, zum Mitkochen einlädt. Statistisch gesehen schlugen im Jahr 2016 ganze 2.400 Menschen aus 70 Nationen zu Buche, die in fünf europäischen Ländern an der mobilen Tafel gesessen haben. Im Verein träumt man von einer Flotte von Containern.
Inzwischen hat diese Ideen in dreißig Städten in Deutschland, in der Schweiz, Spanien und in den Vereinigten Staaten Nachahmer gefunden und werden durch ein sogenanntes Satellitenprogramm koordiniert. Dreißig Ehrenamtliche engagieren sich für Über den Tellerrand. Da ist professionelle Hilfe gefragt und genau dort setzt Linn Kaldinskis Arbeit an. Die Stelle einer Koordinatorin für Ehrenamtliche war die erste, die vom Verein ausgeschrieben wurde. Menschen kennenlernen und Spaß haben macht auch Arbeit – und kann durchaus zu regulären Jobs führen.

Eine andere Generation

„Was ist eigentlich Ihr Lieblingsrezept?“, frage ich Linn, und denke dabei an so etwas wie Nudeln oder Eierkuchen. Die Antwort fällt prompt: „Kochbananen mit Erdnusssoße!“ – „Ich meine, was Sie schon früher als Kind gern aßen?“, konkretisiere ich. „Ist doch von früher. Das kenne ich aus Kamerun.“ Mitunter vergesse ich, dass viele junge Friedrichshainer heute welterfahren und mehrsprachig sind, ganz anders, als in Zeiten, in denen Friedrichshain noch hinter dem Eisernen Vorhang lag und proletarisch geprägt war. Linn unterbricht meine Gedanken: „Ansonsten esse ich am liebsten Schnitzel mit Möhren und Kartoffeln, so wie es meine Oma gemacht hat.“
Die jungen Leute wachsen heutzutage in andere Verhältnisse hinein, als wir seinerzeit, mit anderen Problemen und Sorgen aber auch mit anderen Möglichkeiten. Dass sie diese Probleme in den Griff bekommen, davon bin ich überzeugt, wenn viele von der Art wie Linn Kaldinski sind.

www.ueberdentellerrand.org

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