Der ehemalige Friedhof an der Boxhagener Straße.
Aus dem Grabungsbericht von Uwe Müller und Jeanette Wnuk.
Im Zuge der Neubebauung eines ehemaligen Industriestandortes an der Boxhagener Straße 79–82 in Berlin-Friedrichshain wurde der Friedhof der ehemaligen Kolonie Boxhagen von der Grabungsfirma Archäo Kontrakt archäologisch untersucht.
Berlin Buckshagen, wie der Ort ursprünglich hieß, wird Ende des 13. Jahrhunderts erstmalig erwähnt. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die Parzellen zusammengefasst und als Vorwerk organisiert. 1771 ließ Friedrich II. östlich der Boxhagener Straße vier Häuser für acht neu angesiedelte böhmische Kolonistenfamilien errichten. Doch erst im 19. Jahrhundert wuchs die Ansiedlung. Als ertragsfähige Obstgärten galt sie erst in der Mitte des Jahrhunderts.
Erster Friedhof in Boxhagen
1810 legte man für Vorwerk und Kolonisten einen eigenen Friedhof an, der 1850 nach Süden und Osten vergrößert wurde. Das Ende der Belegung ließ sich anhand der Wachstumsringe des Holzes eines Sargbrettes und eines Reißverschlusses in die 1920er Jahre datieren. Anschließend wurden die Flächen mit Fabrikgebäuden bebaut.
Befunde aus der Zeit der Kolonisation waren einige Pfostenlöcher und verschiedenartige Gruben, darunter wahrscheinlich Rüben- oder Kartoffelmieten, und lassen sich in die Zeit ab dem späten 17. Jahrhundert datieren.
In die zweite Nutzungsphase fiel der Friedhof. Insgesamt wurden 650 Gräber untersucht. Dabei handelte es sich zum größten Teil um gestreckt auf dem Rücken liegende Einzelbestattungen in Holzsärgen. Nur in zwei Gräbern befanden sich Doppelbestattungen, wohl jeweils Mutter und Kleinkind. Kalksteinmauerwerk im Norden der Friedhofsfläche wurde als Überrest der Fundamente von drei Erbbegräbnissen gedeutet. Bei der Untersuchung der Gräber fanden sich Reste der Sargausstattung, der Bekleidung und des Schmucks der Toten sowie einige besondere Beigaben.
Hohe Kindersterblichkeit
22 Prozent der Individuen waren weiblich, 23,9 Prozent männlich und 1,4 Prozent indifferent. Mehr als die Hälfte der Skelettserie (52,7 Prozent) konnte nicht geschlechtsbestimmt werden, was der relativ hohen Zahl von Kindern im Säuglings- und Kleinkinderalter geschuldet war. Von den altersbestimmbaren Individuen der untersuchten Skelettserie waren 64,8 Prozent Kinder und Jugendliche und 35,2 Prozent Erwachsene. Bei den Erwachsenen der Skelettserie zeigte sich ein relativ deutlicher Männerüberschuss von fast 10 Prozent. Die meisten Individuen überlebten das erste Lebensjahr beziehungsweise die ersten vier Lebensjahre nicht, wobei die weitaus meisten Kinder kurz nach der Geburt oder innerhalb der ersten 12 Monate verstarben. Die hohe Säuglingssterblichkeit vergangener Jahrhunderte war meist Folge mehrerer Übel, zu denen unter anderem mangelnde und fehlerhafte Pflege, unzureichende Hygiene sowie falsche und mangelnde Ernährung gehörten. Zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr zeigte sich ebenfalls eine erhöhte Sterblichkeit der Kinder, was auf ihre zunehmende Mobilität zurückzuführen ist und damit ihrem vermehrtem Kontakt zu anderen Menschen. Damit stieg auch das Risiko, sich mit Krankheiten zu infizieren. Zahlreiche Kinderkrankheiten endeten im 19. Jahrhundert noch tödlich.
Krankheit und Armut
Von den Erwachsenen verstarben die meisten der untersuchten Skelette bereits vor dem 40. Lebensjahr (45,5 Prozent). Rund 33 Prozent wurden zwischen 40 und 60 Jahre alt und nur 9,5 Prozent erreichten ein hohes Alter über 60 Jahre. Infektionskrankheiten, wie Grippe, Cholera oder Tuberkulose bedrohten auch Erwachsene. Die hygienischen Zustände und die räumliche Enge bei starker Bevölkerungsdichte boten in Berlin im 19. Jahrhundert den idealen Nährboden für übertragbare Krankheiten. Bei den Erkrankungen, die sich nachweisen ließen, stehen die Zahnerkrankungen an erster Stelle. Besonders Karies war bei vielen Individuen festzustellen. Die Karieshäufigkeit lag bei den Erwachsenen bei 82,4 Prozent. Es zeigte sich eine deutliche höhere Kariesintensität bei den Frauen. Die Skelettserie vom Friedhof Boxhagen wurde auch auf Mangelerscheinungen, die durch unzureichende Ernährung verursacht werden, untersucht. An den Zähnen fanden sich solche Nachweise bei 8,7 Prozent der Bestatteten. Durch Mangelernährung verformte Langknochen wurden bei sechs Kindern festgestellt.
Sich änderndes Brauchtum bei Bestattungen
Die Zahl der Toten mit nachweisbaren Kleidungsresten nahm in der späten Phase stark zu, genau wie die Zahl der jeweils benutzten Knöpfe. Auch die Beigabe von Spielzeug, darunter Puppen, Murmeln und Spielzeugwaffen, ließ sich fast ausschließlich in der späten Phase beobachten. Die Gräber mit deutlich nachweisbarem Kopfschmuck, Kränzen, Hauben, stammten komplett aus der späten Phase. Als ein mit der Zeit abnehmender Brauch stellte sich die Beigabe von Schmuck in Gräbern heraus. Das galt insbesondere für Fingerringe, Ketten und Anhänger. Einzelne Ohrringe wurden auch in männlichen Gräbern gesichert nachgewiesen.
Münzen zum Schutz gestorbener Kleinkinder
Die Münzbeigabe konzentrierte sich auf die späte Phase und dort besonders auf die Säuglings- oder Kleinkindergräber. Auch Objekte, die in Zusammenhang mit der Körperreinigung stehen, wie Schwämme, Kämme und Ähnliches, stammten zu zwei Dritteln aus Kindergräbern, was deutlich von einer normalen Verteilung abwich. Wo solche Gegenstände in den Gräbern lagen, fanden sich keine Münzen. Diese Objekte werden daher im Sinne eines Abwehrzaubers gedeutet. Zweimal wurden in Gräbern Reste von Büchern geborgen, wahrscheinlich Gesangbücher oder Bibeln. Vier Funde aus Eisen wurden als Reste von Bändern identifiziert, die bei Leistenbrüchen angelegt wurden. In vier Bestattungen fand man Zahnprothesen. In zwei Gräbern lagen jeweils eine Taschenuhr und in zwei weiteren wurden Reste von eisernen oder eisenverkleideten Kästchen entdeckt.
Zuwanderung änderte Bestattungsrituale
Für viele der in der späten Belegungsphase neu oder verstärkt auftretenden Beigaben lassen sich ältere Vorbilder, oder eine noch stärkere Verbreitung in katholischen Friedhöfen Berlins sowie der Umgebung nachweisen. Das rasche Bevölkerungswachstum Berlins in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts speiste sich den Schriftquellen nach unter anderem durch Immigranten aus Polen, Schlesien und Böhmen. Sie siedelten sich am Rande der ständig expandierenden Stadt an und scheinen hier, in der Boxhagener Straße, auch ihre letzte Ruhe gefunden zu haben.