Irrsinn als Literatur
Hempel landete in der Psychiatrie in Herzberge und wurde mit Stromstößen behandelt. Ihm gelang es danach dennoch, in einer Kanzlei in der Mauerstraße 53 aufgenommen zu werden. Dass er seinen Klinik-Aufenthalt verschwieg, wurde ihm später zum Vorwurf gemacht. Doch zunächst war er begeistert: Ihm gefiel, wie dynamisch es in der Kanzlei zuging: „Ich dachte an den Sturz alles Alten, Morschen. Dachte an amerikanisches Tempo, amerikanisches Geldverdienen. Ich dachte an einen Betonguss, an einen Wolkenkratzer.“ Er ließ sich mitreißen, wurde ein sehr guter Notargehilfe, der die Grundbücher bald besser lesen konnte, als studierte Anwälte. Lob und eine Gehaltszulage waren der Dank. Die Kollegen hingegen waren neidisch. Hempel hatte nichts für sie übrig: „Querköpfe, Zwerge, Spatzenschädel, armselige Kreaturen, die mich fragten, ob Mulhouse in Pommern liege… Dumm, dick, faul und gefräßig, stolz wie ein Klosett mit Fliesen.“
Wie sich Hempels Hinauswurf aus der Kanzlei genau vollzog, ist unklar. In seinem Schreiben schimpfte er über Ränke, erklärt umständlich seinen Ausraster, eine Überreaktion gegenüber einer Kollegin und gab zu, schon gegen andere Kollegen handgreiflich geworden zu sein.
Arbeitslos schrieb, zeichnete, dichtete er, dokumentierte seine Auseinandersetzung mit seinem Verrücktsein, fertigte schräge, fast dadaistische Krakeleien an, ein realistisch gezeichnetes Selbstporträt mit Pistole, eine schlafende Trunkene, Gedichte aus dem Irrenhaus, Kurzprosa über verlebte Dirnen in verlausten Kaschemmen und Stundenhotels. Dann, 1929, der Durchbruch: Im Berliner Roderich-Fechner-Verlag erschienen einige seiner Arbeiten unter dem Titel „Irrsinnig!?“ Ein Jahr zuvor kam im selben Verlag der Gedichtband eines unbekannten Morphinisten heraus, des späteren DDR-Kulturministers Johannes R. Bechers. Aber auch George Grosz und Max Herrmann-Neiße publizierten hier.
Verbleib unbekannt
Doch wer kauft Bücher in der Inflationszeit, und dann auch noch solche? Hempel lebte von einer spärlichen Sozialzulage und vom Zuschuss eines Mäzens. Friedrich Hermann Küthe, Bibliothekar aus dem westfälischen Soest, ein großer Fan von Hans Fallada, bat den Schriftsteller 1933, eine Unterstützung anzunehmen. Dieser wies Küthe an den in prekären Verhältnissen lebenden Hempel. Fallada traf sich mit Hempel und beide schrieben Küthe eine Postkarte aus dem Romanischen Café. Küthe versuchte vergebens, weitere Texte Hempels, die Fallada sehr gefallen hatten, in Zeitungen unterzubringen. Fallada selbst nahm Abstand von Hempel, als dieser sich immer mehr in den Größenwahn hineinsteigerte. Auch der Verleger Ernst Rowohlt, der mit Fallada über Hempel sprach, ging auf Distanz: Das Buch würde eine Woche nach Erscheinen verboten werden.
Zehn Jahre später war Walter Hempel im Berliner Adressbuch von 1943 in der Obersten Straße als Büroangestellter gemeldet. Offenbar konnte er wieder in diesem Beruf arbeiten – oder musste es, denn die nationalsozialistische Kulturpolitik erkannte nur Schönes und ehrwürdig Strahlendes als Kunst an. Was aus Hempel und seiner Familie geworden ist, ob sie den Krieg überlebte und ob die von Fallada gelobten Manuskripte noch existieren, wäre ein schönes Thema für eine biographische Forschung. Das Haus in der Obersten Straße 14 wurde im Bombenkrieg zerstört, auf dem Gelände des Hauses steht heute eine in den 1970er Jahren errichtete Kita.