Anne Mieth und Rodrigo Franco, Betreiber des „La Despensa“ in der Samariterstraße 35.
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Speisekammern gehörten früher in jeden Haushalt, auch wenn es im Arbeiterbezirk Friedrichshain eine Menge Haushalte gab, in denen diese verschließbaren Kammern nicht viel zu verstauen hatten, zumindest in den schlechten Jahren. Nach mehreren Sanierungswellen sind sie inzwischen fast verschwunden. Da tauchte vorletztes Jahr in der
Samariterstraße unversehens eine neue Speisekammer in Form eines Lokals auf, zumindest dem (spanischen) Namen nach: La Despensa.
Spezialitäten des Hauses
Als ich früh am Morgen das noch menschenleere Lokal in der Samariterstraße betrete, erklingt aus der Musikanlage ein improvisiert klingendes Gemisch aus dynamischem Beat und Jazz mit Latino-Einschlag. „Was ist das für eine Musik?“ frage ich Rodrigo, der mir mit einem Tablett voller frischem Gebäck entgegeneilt. „Gleich, gleich“, ruft Rodrigo „Ich schau selbst mal nach.“ Sie stammt von Lalo Schifrin, einem Künstler, der seit den 60er Jahren unter anderem durch seine Krimi-Musiken berühmt wurde. Aber das erfahre ich erst fast am Ende unseres Gesprächs. Behände stellt Rodrigo, ein auf den ersten Blick untersetzt wirkender, doch recht großer, mitunter sehr lebhaft auftretender Enddreißiger mit einem Cap über dem kurzen Haar, das Tablett neben einer Glasbox am Tresen ab und verstaut das Gebäck darin. Dabei redet er ununterbrochen und erklärt, um was es sich bei diesen Empanadas handelt. Es sind ursprünglich aus Galicien im heutigen Spanien stammende mit Gemüse und Fleisch gefüllte Teigtaschen, die überall in der gesamten Latino-Welt verbreitet sind. Wo sie gebacken werden, füllen die Menschen sie mit dem, was sie gern essen. Folglich wickelt Rodrigo in seine Empanadas nicht nur exotisch gewürztes Gemüse, sondern auch Kartoffeln, Rüben und Wurst. „Blutwurst mit Süßkartoffeln oder Rote Beete, das lieben die Deutschen!“, unterstreicht Rodrigo, „oder auch Frischkäse mit Kräutern“.
Mehr als ein hippes Brausegetränk
In Paraguay, von wo Rodrigo herkommt, werden Empanadas auf den langen Busreisen als Proviant mitgenommen. Getrunken wird stark gesüßter Mate-Tee, dessen lateinische Bezeichnung Ilex paraguariensis (Paraguayische Stechpalme) lautet. Rodrigo zeigt auf seinen in Leder eingenähten Becher, gefüllt mit etwas, das wie ein unansehnlicher Heuaufguss aussieht, aus dem der Löffelstiel ragt. Wohl, weil ich ein komisches Gesicht mache, schenkt er mir eine selbst entwickelte „To go“-Version mit Milch ein. Rodrigo schaut mich erwartungsvoll an. Es schmeckt frisch und blumig und erinnert an einen guten Assam-Tee, ist aber viel leichter. „Etwas süß“, bemerke ich. „In Deutschland trinkt man nicht gern süß“, kommentiert er lachend, „dafür isst man süß.“ Und er gibt amüsiert noch eins drauf: „Alles, was man in Paraguay mit Zucker isst, kommt von den Deutschen.“
Frühzeitig auf den eigenen Beinen
Aufgewachsen ist Rodrigo in Asunción, der Hauptstadt Paraguays. Schon früh begann er, eigenes Geld zu verdienen. „Mit elf Jahren lief ich durch die Straßen, in denen kleine Wechselstuben ihre Wechselkurse anschrieben, notierte sie und berichtete sie Verwandten, die ebenfalls eine Wechselstube betrieben.“ Später verkaufte er günstig erworbene T-Shirts und Hosen an seine Schulkameraden. Seine gute Schulausbildung gestatte ihm ein Medizinstudium, für das er jedoch nicht die notwendige Selbstdisziplin aufbrachte. Er wechselte zu Jura und zog nach New York, wo sich die Lebenshaltungskosten allerdings als sehr hoch erwiesen. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse bekam er ein Angebot, im Gastro-Bereich zu arbeiten. „Ich geb’s ungern zu, darunter befand sich auch der Trump-Tower“, witzelt Rodrigo. Diese Arbeit und seine Erfahrungen aus dem Jura-Studium ermutigten ihn, ein Restaurant mit paraguayischen Spezialitäten zu eröffnen.
Inzwischen hat sich Anne Mieth, Rodrigos Frau, zu uns gesellt, eine fast mädchenhaft wirkende Mittdreißigerin mit rotblondem, schulterlangem Haar. Dass die beiden echte Global-Player sind, sieht man ihnen auf den ersten Blick nicht an.
Erfolgreich in New York
In der sächsischen Oberlausitz aufgewachsen, hat Anne in Dresden Graphik-Assistenz gelernt und beabsichtigte, in Hildesheim Corporate Design zu studieren. „Aber weil es nicht gleich einen freien Platz gab, dachte ich: Nimm ein Wartesemester, geh nach New York und lerne in der Zwischenzeit ein vernünftiges Englisch.“ Dort traf sie auf Rodrigo. In Brooklyn bauten die beiden ihr erstes Geschäft ähnlich wie das La Despensa auf. „Weil es mir in New York gefiel, erkundigte ich mich in Hildesheim, wie lange ich das Wartesemester ausdehnen könne.“ Bis zu drei Jahre, lautete die Antwort. „Ich bin dann aber acht Jahre in New York geblieben“ – „Genau“, witzelt Rodrigo. „Ich habe ‚Warte!‘ gesagt und sie ist geblieben.“
Das kleine Restaurant, das immerhin einen offiziellen Versorgungsstützpunkt des berühmten New York-Marathon unterhalten durfte, betrieben sie nun gemeinsam. Doch entwickelte Anne auch in ihrem Beruf als Designerin eigene Aktivitäten. „Ich wurde Art Direktor beim Williamsburg/Greenpoint News+Arts, einer kleinen Stadtteilzeitung wie euer Zeitzeiger. Da wird auf kulturelle Veranstaltungen hingewiesen, über Gastronomie berichtet, werden Neuigkeiten und Kunst vorgestellt.“ Später übernahm sie auch das Corporate Design der New York Historical Society, die ein Museum und eine Bibliothek betreibt sowie des National Museums Of Women in the Arts in Washington D.C.
Auf Änderungen eingestellt
Dass diese Zeit zu Ende ging, hängt mit einer Entwicklung zusammen, die längst auch in Friedrichshain eingesetzt hat. Der Laden wurde verkauft. „So wie in Friedrichshain jetzt war es früher auch in Brooklyn, nur dass sich der Wechsel dort schlagartig vollzog. Hier gibt es Mieterrechte und es gibt längere Vertragsfristen.“
Friedrichshain erleben sie so ein bisschen wie in einem Dorf. „Man kann die Straße nicht entlang gehen, ohne auf Bekannte zu treffen.“ Was ist, wenn auch der hiesige Vertrag ausläuft? „Dann kommt etwas Neues!“ Darin sind sich beide einig. „Außerdem habe ich durch meine Designer-Arbeit einen unabhängigen Verdienst“, fügt Anne hinzu.
Was es heißt, auf Änderungen eingestellt zu sein, bedeutete für Anne und Rodrigo nach ihrer Zeit in New York der Umzug nach Paraguay, wo sie in einem heruntergekommenen neobarocken Palais in der einstigen Hauptgeschäftsstraße von Asunción ein Lokal eröffneten, das El Poniente. „Wir waren ein Geheimtipp“, berichtet Rodrigo stolz, „bei uns haben die Bands Camouflage und die Pet Shop Boys gespeist.“
Als sich unerwartet Nachwuchs einstellte, bestand Anne darauf, nach Berlin zu gehen. „Wir sind in drei Jahren über drei Kontinenten umgezogen. Zehn Jahre war ich nicht in Deutschland und hatte den ganzen bürokratischen Papierkram vergessen, der hier notwendig ist. Manches davon, was für meine Freunde hier selbstverständlich ist, weiß ich bis heute nicht richtig.“
Rodrigo arbeitete zunächst in einem Café am Traveplatz, bis sie auf den leerstehenden Laden in der Samariterstraße aufmerksam wurden.
Treff, Café und Restaurant in einem
Wegen seiner provisorischen Anmutung erinnert das Lokal La Despensa ein wenig an die Ersteinrichtung zahlreicher neuer Kneipen und Läden, die in der Revolutions- und Besetzerzeit wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Die Möbel wirken benutzt, abgegriffen, man sieht keinen besonderen Chique. Und doch ist es etwas ganz Eigenes. Findige Inneneinrichter verkaufen unter dem Begriff „Shabby-Look“ inzwischen sehr erfolgreich mit künstlicher Patina Versehenes und auf alt Gemachtes, das nagelneuen Boutiquen ein lächerliches, gewollt und nicht gekonntes Rumpelkammer-Aussehen verleiht. Und doch fehlt denen das Wichtigste. In La Despensa tritt die Erscheinung des Mobiliars zurück, weil die Menschen im Vordergrund stehen. „Wir wollen den lateinamerikanischen Geschmack hier her bringen“, sagt Rodrigo, „wir wollen kulturellen und sozialen Austausch.“ Anne fügt hinzu: „Unsere Besucher sind zu einem Drittel spanisch- und zu einem Drittel englischsprachig. Die Mittagsgäste sind überwiegend Deutsche. Erstmalig wurde auch von Unternehmen aus der Umgebung das Hinterzimmer für Weihnachtsveranstaltungen nachgefragt. „Die lateinamerikanische Community interessiert sich auch für uns“, ergänzt Anne. So bestellte die Botschaft Paraguays zu einem offiziellen Festtermin 120 Empanadas und in diesem Jahr wird La Despensa Paraguay auf der Internationalen Tourismusbörse Vertretung und das komplette Catering übernehmen.
„Die Empanadas habe ich dann im Berufsverkehr durch die U-Bahn geschleppt.“ Anne macht ein Gesicht dabei, das auf wenig Vergnügen schließen lässt. „Wir brauchen ein Auto!“, stellt Rodrigo fest, und es scheint, als beschäftigten die beiden sich nur ungern mit dieser notwendigen Anschaffung. Annes Großeltern besitzen in der Nähe von Görlitz einen ökologisch geführten Hof, wo im Herbst die Roten Rüben ihrer Empanadas herkommen. Die voll beladenen Gemüsekisten konnten sie bislang irgendwie nach Berlin dirigieren. Das wird irgendwann nicht mehr möglich sein.
Genussexperten
Rodrigo gilt auch international als Fachmann in Sachen Mate. Er begleitete ein Kamerateam in eines der klassischen Anbaugebiete und dolmetschte in der Landessprache der Ureinwohner, in Guaraní. Die Urform der Mate wächst ähnlich wie Efeu im Wald im Schatten hoher Bäume. Üblicherweise werden kostengünstigere Sorten auf Plantagen unter künstlichen Sonnenzelten angebaut. „Aber wir haben den besten Mate aus den klassischen Gebieten.“ Anne ergänzt: „Wir experimentieren auch mit den roten Beeren der Mate-Pflanze, die bislang keine Verwendung finden.“ Im Angebot hat La Despensa übrigens auch Cold brew Coffee, kalt gebrauter Kaffee, keine lateinamerikanische Spezialität aber trotzdem erwähnenswert.
Dieses Getränk muss mit einer deutlich größeren Menge Kaffee als bei heiß Gebrühtem über mehrere Stunden im Kühlschank ziehen. Sich treu gebliebene DDR-Bürger werden die Nase rümpfen ob der Verschwendung. Ganz zu schweigen davon, wer erinnert sich nicht, dass Kaffee im kommunistischen Rumänien eine harte Währung war? Doch die Vorteile des Cold Brew liegen auf der Hand: bedeutend bekömmlicher und intensiver im Geschmack. Ein „Sommergetränk“, kommentiere ich. „Aber mit heißer Milch auch an kalten Tagen gut“, setzt Rodrigo hinzu.
Flexibel und offen sein
Annes und Rodrigos Arbeitsbiografien mögen eine Ausnahme sein, doch sind sie genau das, was ein paar Freunde und ich als junge Menschen immer erträumt hatten: mit Eigeninitiative das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, egal wo in der Welt, aber immer auch mit einem Bewusstsein für Verantwortung. Das ist etwas anderes, als das häppchenweise zugeteilte Leben mit wenig individuellen Gestaltungsspielräumen, wie es in der DDR erduldet werden musste und wie es viele Ängstliche inzwischen wieder haben wollen. Dass sich aktive Menschen wie die Betreiber des La Despensa in unserer Nachbarschaft niederlassen, unser Leben bereichern und sich bei uns wohl fühlen, ist ein Lob, auf das wir stolz sein können.