Die Palisadenstraße.
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Sobald man einem wachhabenden Offizier „hundert Fragen“ beantwortet und eine „unleidliche Revision der Akzisebedienten“ über sich ergehen lassen hatte, sah man ärmliche Hütten, wo der „kleinste Zephyr“ – damit ist ein Wind gemeint – unerträgliche Staubwolken verursachte. 1808 war das der Eindruck von außerhalb der Berliner Akzisemauer. Doch innerhalb war es nicht viel anders. „Es gibt hier Straßen, wo große Kloaken aufgetürmt liegen, faule Sümpfe in beständiger Gärung fließen und schädliches Ungeziefer sich generiert“, schrieben angewiderte Reisende. Auf allen Waren, die von außen kamen, lagen hohe Steuern. Die Berliner jener Zeit bauten deshalb selber an. Ein Tourist stellte erstaunt fest, dass „in diesen Ringmauern damals noch gesäet, geerntet, geheutet und gedroschen wurde wie auf dem flachen Lande“. Auch um seine Soldaten an der Flucht zu hindern, ließ der „Soldatenkönig“ zwischen 1734 bis 1737 einen Ring aus Palisaden, einem hohen Zaun mit Toren, um die damalige Stadt bauen. Dann, um 1802, wurde dieser Ring als massive Mauer erweitert und schloss unbebaute Flächen mit ein. Das ursprüngliche Frankfurter Tor stand etwa auf der Höhe des U-Bahnhofs Weberwiese. Nach dem Abriss der leidigen Zollmauer entstand 1863 die Palisadenstraße.
Fürsorge
Schick war die Palisadenstraße nicht. Noch am damaligen Stadtrand gelegen schien sie geeignet „Randständige“ aufzunehmen, die vom frühen Berliner Industrieboom angezogen wurden, oft scheiterten, Trost in Alkohol oder Sex suchten, an Geschlechtskrankheiten oder Tuberkulose litten. Um die Not zu lindern, ließ die Stadt zwischen 1845 bis 1848 an der damaligen Palisadenstraße 37 ein vom Stadtbaurat Wilhelm Kreyher entworfenes Hospital bauen. Ab dem 1. April 1889 stand das dreistöckige Gebäude als Friedrich-Wilhelms-Hospital unter Leitung des Curatoriums des Stadtrats Kunz, neben dem Stadtverordneten Dr. Kristeller.
Gleichzeitig wurde die Männer-Siechen-Anstalt an der Stralauerstraße 58 geschlossen und eine neue Siechen-Anstalt für „unheilbare Obdachlose“ an der Prenzlauer Allee eröffnet. Auch diese wurde vom „Curatorium“ verwaltet, das aus zwei Stadträten, acht Stadtverordneten und zwei Bürgerdeputierten bestand. 1890 befanden sich 613 Personen im Hospital an der Palisadenstraße, überwiegend Witwen im Alter von über 60 Jahren. Der Speiseplan sah mittags Rindfleisch mit Graupen oder Brühkartoffeln vor. Anderenfalls mit Linsen. Oder es gab Reis mit Kartoffeln. Selten war Pökelfleisch mit Erbsen oder Speck mit frischem Obst und Klößen. Höhepunkte waren Schweinebraten mit Milchreis oder Bratwurst mit Weißbiersuppe und Grieß, falls nicht Braunbiersuppe mit Brot gegeben wurde.
Der Möbelbestand im Hause nährte sich aus Nachlässen oder aus dem Besitz von verstorbenen Almosenempfängern. Überschüsse gingen in den Verkauf. 1891 wurden 2.064.150 Mark erzielt. Einiges davon ging in den Verleih an Arme, so 114 große Bettstücke gegen eine Gesamtgebühr von 1.368 Mark. Finanziell wurde das Hospital wie die Siechen-Anstalt von der Stadt und von Stiftungen getragen, so von der Steinwehr’schen Stiftung, die 1893 laut Geschäftsbericht 149.542 Mark zusteuerte. Bankiers gaben auch, wie beispielsweise ein Herr Fränkel, der 4.680 Mark für die besonderen Bedürfnisse der Hospitaliten spendete. Eine Frau Lange-Ganus spendete 72 Mark für 36 Hospitaliten. Zu Weihnachten gab die Mett’sche Stiftung 582 Mark, die, wie es hieß, „gleichmäßig verteilt“ werden sollten. Das Hospital litt jedoch an Überfüllung und deren Folgen, wie Selbstmorden oder grassierenden Influenza-Epidemien. Im zweiten Weltkrieg fielen die Gebäude in Trümmer. Wenig hatte sich bis dahin verändert. Die Palisadenstraße war ein Elendsviertel mit lichtarmen Höfen und halb verfaulten Stufen in stinkenden Treppenhäusern.
Schienenwege
Am 24. Januar 1952 begannen Bauzüge der Reichsbahndirektion Berlin mit dem Verlegen einer fünf Kilometer langen eingleisigen Bahnstrecke vom Zentralviehhof zum Büschingplatz. Diese „Trümmerbahn“ führte durch die Palisadenstraße. Hier wurden die Waggons von einer großen Trümmerschuttkippe aus beladen. Die Güterwagen, jeder mit bis zu fünfzehn Tonnen Ladegewicht, brachten zweimal täglich den Schutt zum Bahnhof Zentralviehhof und von dort nach Herzfelde, wo die Trümmer in Tonlöchern verschwanden.
Zwickel im Bau
Ende der siebziger Jahre wurden die Sanierung und der Ausbau der Palisadenstraße vorbereitet. Eine „Standortbeschreibung des Zwickelbaus an der Palisadenstraße 55–57 und 61–64“ von 1980 hält fest: „Die vorhandene Bausubstanz entstand im Zeitraum von 1884–1890. Die Bauweise war geprägt durch Ausnutzung des Grund und Bodens, was zur Folge eine beengte Wohnqualität hatte. Durch Sprengung der schlechten Bausubstanz werden in den Lücken Wohnbauten mit neuer Wohnqualität entstehen. Bei der farblichen Gestaltung des Palisadendreiecks ist die dominierende Rolle der Magistrale Karl-Marx-Allee zu berücksichtigen. Deshalb muß sich Gestaltung des Palisadendreiecks durch eine zurückhaltende, freundlich wirkende Farbgebung dieser Magistrale unterordnen.“
Ärger und Erfolg
Aufmerksamkeit erhielten 1997 in der Palisadenstraße 124 Wohnungen mit altersgerechter Ausstattung in der Palisadenstraße 41 bis 46, die nur Inhabern von Wohnberechtigungsscheinen über 65 Jahre zur Verfügung standen. Doch als die Grundförderung zum 31. Oktober 2012 auslief, bestand die Gefahr einer Mieterhöhung bis auf netto 13,50 Euro kalt pro qm². Das war zu viel für etliche der betagten Bewohner. Die „WB Immobilien Palisadenstraße GmbH & Co. KG“ wollte auf eine Mieterhöhung verzichten und schlug vor, freiwerdende Wohnungen künftig als Ferienwohnungen zu vermieten, und das bis zu maximal 50 Prozent aller Wohneinheiten. Doch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz erkannte die Mieter nicht als Härtefälle an. Das löste einen Proteststurm unter den Bewohnern aus. Mit sehr viel Ausdauer in den Verhandlungen verhinderten die Senioren den Missbrauch durch Ferienwohnungen und setzen 2013 eine Miete von 8 Euro je qm² netto kalt durch.