40 Jahre Malaktion im Storkower Tunnel

So konnte sie nicht bleiben

Die Fußgängerbrücke in Blickrichtung Storkower Straße kurz vor dem Abriss, Innenansicht. Foto: Henson Stehling 2002,
Die Fußgängerbrücke in Blickrichtung Storkower Straße kurz vor dem Abriss, Innenansicht. Foto: Dirk Moldt / Zeitzeiger

40 Jahre Malaktion im Storkower Tunnel

Kurz nach Eröffnung des Berliner Zentralvieh- und Schlachthofs 1881 wurde auch eine Haltestelle Centralviehhof auf der Ringbahn eingerichtet. Nach mehrmaligem Umbau des Bahnhofs entstand 1939 auch eine aus Trägern und Blechen genietete und von Glasfenstern geschlossene breite Fußgängerbrücke mit Dach. Sie verband den Bahnhof mit der die Eldenaer Straße in Friedrichshain. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Bahnhof erst wieder 1951 für die Berliner eröffnet. Im Zuge der Errichtung des neuen Wohngebiets am Fennpfuhl verlängerte man 1977 die Brücke von dort zur S-Bahnstation und nannte sie in Storkower Straße um.

Fußgängerbrücke über den Zentralvieh- und Schlachthof (Montage)Landesarchiv Berlin, F Rep. 290-4010 Nr. 1002668 / Foto: Fey, Stefan.
Fußgängerbrücke über den Zentralvieh- und Schlachthof (Montage)
Landesarchiv Berlin, F Rep. 290-4010 Nr. 1002668 / Foto: Fey, Stefan.

Auf der über 500 Meter langen Brücke konnte man die Züge von weitem ankommen und abfahren sehen, weshalb die Menschen im Berufsverkehr, wenn die Zeit knapp war, meist eilig gingen oder gar hasteten. Entsprechend gab der Volksmund der Brücke den Namen „Zum langen Jammer“.

Der Storkower Tunnel Anfang der 80er Jahre. S8-Film Dirk Moldt

 

Ein weniger bekannter Name war auch „Rue de Galopp“. Weil die Seitenfenster der Brücke Anfang der 1980er Jahre zerschlagen waren und man sie deshalb über weite Strecken mit Blechplatten verschloss, setzte sich irgendwann der Name „Storkower Tunnel“ durch. Selbst in Mitteilungen von staatlichen Einrichtungen wurde dieser Name genutzt. Die Wände des Tunnels waren grau und extrem verschmutzt. Wie andere ungepflegte Verkehrsbauten der DDR-Hauptstadt verkam der Tunnel zu einem zu einem Un- und Angstort, der einem normalen Leben in der Stadt nicht mehr gerecht war. Eine der Initiatorinnen der Aktion gab bei ihrer Vernehmung zu Protokoll: „So wie die Brücke aussah, konnte sie nicht bleiben.“

Bürgerbilder

Gerade junge Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt nahmen solche Angstorte verstärkt zur Kenntnis. Daraus entwickelte sich ein kunsthistorisch bislang kaum untersuchtes Phänomen, für das es in der DDR sogar schon einen Namen gab: Bürgerbilder. Dabei handelte es sich um von vornherein temporär angelegte, meist farbenfrohe Bilder, bei denen weniger künstlerische Konzepte, als viel mehr der Wille im Vordergrund stand, die Umwelt farblich zu gestalten und damit in Besitz zu nehmen. Die Freude des Gestaltens spielte eine wesentliche Rolle, denn solche Bilder entstanden in gemeinsamen Happenings bei Straßen- und Hoffesten.

1982 fasste der Architekturkritiker Bruno Flierl (1927-2023) das Phänomen erstmalig unter dem Titel „Bürgerbilder in der Stadtumwelt“ in einem Aufsatz systematisch zusammen: „Ein Zeichen des wachsenden Strebens der Stadtbewohner nach mehr Individualisierung der gesellschaftlich produzierten Wohn- und Stadtumwelt, ein Indiz für ihren Drang, nach mehr Identifikation mit der Umwelt und über diese vermittelt mit der Gesellschaft und mit sich selbst.“ Dabei sah er keinen grundlegenden Unterschied zwischen der „wilden“ Bemalung von Hauswänden und Hinterhöfen sowie der organisierten Gestaltungen von Straßenbahnhaltestellen, Kindergärten, Jugendklubs oder gar der individuellen Gestaltung von Neubaubalkonen. Gemalt wurden „Traumwelten und ein kleines bisschen Umweltkritik“: Landschaften, Dorf mit Kirche und Bauernhaus, Fabelwesen, Sonne, Haus, Blumen, Tiere, Männekens. Einen aufrührerischen Charakter erkannte er darin nicht.

Leute und Bilder im Tunnel

Graffiti im Storkower Tunnel, 1983. 40 Jahre Malaktion im Storkower Tunnel. Landschaften, Sonnen, Märchen und Fabelwesen, Häuser, Blumen und Tiere waren die Motive, die von den 20 Tunnelmalerinnen und -malern ausgewählt wurden. Sechs Personen wurden sofort inhaftiert und im Frühjahr 1984 in einem inszenierten Prozess vor geladenem Publikum zu sieben Monaten Haft und Geldstrafen verurteilt. Bundesarchiv MfS AU 4414-85 Bd. 4.

In den Altbaubezirken der Innenstadt Ostberlins lebten zahlreiche kreative junge Menschen, die teils allein, teils in Gruppen unterwegs waren und mit den unscharfen Begriffen „Alternative“ und „Szene“ versehen wurden. Ihre Treffpunkte waren bestimmte Kneipen, Klubs, einzelne offene Abende von Kirchengemeinden aber auch Wohnungen. Dies waren dann auch die Orte, in denen über die Idee, den Storkower Tunnel zu gestalten informiert und diskutiert wurde. Einig war man sich darüber, keine Texte oder politischen Provokationen anzubringen, um dem Verdacht einer politischen Aktion aus dem Wege zu gehen.

Landschaften, Sonnen, Märchen und Fabelwesen, Häuser, Blumen und Tiere waren in der Tat die Motive, die von den 20 Tunnelmalerinnen und -malern ausgewählt wurden. Thematisch ging es darum, mit einfachen Mitteln etwas Schönes zu gestalten. Aber es gab auch konzeptionelle Arbeiten, wie ein durchgehender Strich, der einen Sonnenstrahl durch den dunklen Tunnel darstellt. Ein großer Teil der Malerinnen und Maler band diesen Strahl z.B. als Horizont- oder Bodenlinie in die eigenen Arbeiten mit ein.

Graffiti im Storkower Tunnel, 1983. 40 Jahre Malaktion im Storkower Tunnel. Landschaften, Sonnen, Märchen und Fabelwesen, Häuser, Blumen und Tiere waren die Motive, die von den 20 Tunnelmalerinnen und -malern ausgewählt wurden. Sechs Personen wurden sofort inhaftiert und im Frühjahr 1984 in einem inszenierten Prozess vor geladenem Publikum zu sieben Monaten Haft und Geldstrafen verurteilt. Bundesarchiv MfS AU 4414-85 Bd. 4.

Ein weiteres Motiv bildet das weinende Flugzeug und ein Symbolbild eines Unbekannten, welche von den Untersuchungsorganen als politisch provokant eingestuft wurden. Dabei handelt es sich um den Umriss des geteilten Berlin mit Mauertrennlinie, von zwei Raketen flankiert. Sie waren mit den Buchstaben P und S versehen waren, was sie als amerikanische Pershing- und sowjetische SS-20- Raketen kennzeichneten.

Graffiti im Storkower Tunnel, 1983. Ein Symbolbild eines Unbekannten, welche von den Untersuchungsorganen als politisch provokant eingestuft wurde.
Ein Symbolbild eines Unbekannten, welche von den Untersuchungsorganen als politisch provokant eingestuft wurde.

Es handelt sich um eine ganz typische Symbolik der nichtstaatlichen DDR-Friedensbewegung, deren Protest sich nicht nur gegen die Stationierung der amerikanischen sondern auch der sowjetischen Atomwaffen richtete. Erst am 22. November 1983 hatte der Bundestag der Stationierung von Atomraketen zugestimmt, trotz der Ankündigung der UdSSR, darauf auch eigene Atomwaffen in der DDR zu stationieren. Über letzteres durfte nur im Zuge einer Schuldzuweisung an die NATO-Staaten angesprochen werden.

Vorverurteilt

Das Vorhaben sprach sich herum, weshalb es auch kein Wunder war, da es am 17. November 1983 bei einem Treffen in der Evangelischen Studentengemeinde angekündigt wurde. Das MfS erfuhr durch Inoffizielle Mitarbeiter davon und sprach sofort von feindliche Personen, die mit der mit der Absicht agierten, Sicherheitskräfte zu provozieren. Bestätigt sah man sich, als man erfuhr, dass am 24. November auch im Friedenskreis der Samaritergemeinde darüber gesprochen wurde. Angeblich sollten „Losungen und Karikaturen politischen Inhalts“ angebracht werden.
Die Tunnelmalerinnen und -maler selbst berichteten, dass sich Passanten positiv über die Aktion äußerten.

Entsprechend muss die Stimmung vor Ort von der Volkspolizei wahrgenommen worden sein, denn sie rechtfertigte fehlende Sicherungsmaßnahmen damit, dass man die Pinsel entfernt habe, um „eine weitere Ausführung der Handlung durch andere zu vereiteln.“ Dennoch unterstellten die Sicherheitskräfte von Anfang an einen feindlichen und zerstörerischen Charakter. Die Ermittlungen übernahm das MfS.
Dementsprechend wurde den Malerinnen und Malern vorgeworfen, sich „organisierend und gemeinsam handelnd“ an einer „Zusammenrottung zur Missachtung der Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens“ beteiligt zu haben, indem sie mit weiteren DDR-Bürgern „an der Fußgängerüberführung in Berlin Friedrichshain „Beschädigungen an Glasscheiben und Metallteilen durch Beschmieren mit verschiedenen Farbsubstanzen vornahmen.“ Eine sofort eingeleitete Renovierung, die 7927,07 Mark kostete, wurde als Schadenssumme reklamiert.

Von den Wandbildern fertigte das Ministerium für Staatssicherheit eine 62seitige beinahekatalogartig anmutende Dokumentation an. Bundesarchiv MfS AU 4414-85 Bd. 4.
Von den Wandbildern fertigte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) eine 62seitige beinahe
katalogartig anmutende Dokumentation an.

Sechs Personen wurden sofort inhaftiert und im Frühjahr 1984 in einem inszenierten Prozess vor geladenem Publikum zu sieben Monaten Haft und Geldstrafen verurteilt. Fünfzehn Personen wurden zu hohen Geldstrafen verurteilt. Einer der zunächst Freigelassenen und mit einer Geldstrafe Verurteilten wandte sich an die Botschaft der USA und wurde dafür zu einer Haftstrafe verurteilt. Im Nachhinein konstatiert die Staatssicherheit „eine von feindlich-negativen Kräfte initiierte Aktion, die sich gegen die Raketenstationierung der UdSSR in der DDR und gegen die Umweltpolitik der DDR richtete.“

Protest und Solidarität

Graffiti im Storkower Tunnel, 1983. 40 Jahre Malaktion im Storkower Tunnel. Landschaften, Sonnen, Märchen und Fabelwesen, Häuser, Blumen und Tiere waren die Motive, die von den 20 Tunnelmalerinnen und -malern ausgewählt wurden. Sechs Personen wurden sofort inhaftiert und im Frühjahr 1984 in einem inszenierten Prozess vor geladenem Publikum zu sieben Monaten Haft und Geldstrafen verurteilt. Bundesarchiv MfS AU 4414-85 Bd. 4.

Schon mit der Verhaftung von sechs der Tunnelmalerinnen und -maler demonstrierte der Staat Unerbittlichkeit und erschreckte viele Leute, die mit der Aktion sympathisierten. Verstärkt wurde der Eindruck der Härte des Staatsapparats dadurch, dass die Frage des Bischofs der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburgd, Gottfried Forck, ob man für die in Untersuchungshaft sitzenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Malaktion etwas tun könne, vom Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, schroff abgewiesen wurde. Die drastischen Strafen lösten zunächst einen Schock, dann aber auch eine Welle der Solidarität aus. Es kam zu Spendenaktionen, mit der die gesamte Strafsumme eingeworben wurde.

Die zu Freiheitsstrafen Verurteilten saßen ihre Strafen im Strafvollzug ab. Ein Teil der Tunnelmalerinnen und -maler verließ später das Land.

Wiedergutmachung

Obwohl im November 1983 Wert darauf gelegt worden war, keine politischen Botschaften zu äußern, reiht sich die Malaktion in zahlreiche andere friedliche Aktionen von jungen Leuten der Ostberliner Friedens- Umwelt- und Menschenrechtsbewegung in diesem Jahr ein.

Die Tunnelmalerinnen und -Maler wurden nicht vergessen: In der Nacht vom 22. zum 23. Januar 1989 beschrieben Unbekannte die Storkower Brücke mit dem Spruch: DIE PARTEI HAT IMMER RECHT ALSO HALTET EURE SCHNAUZE. Bundesarchiv MfS BV BERLIN Abt XX 3791 14-4
Die Tunnelmalerinnen und -Maler wurden nicht vergessen: In der Nacht vom 22. zum 23. Januar 1989 beschrieben Unbekannte die Storkower Brücke mit dem Spruch:
DIE PARTEI HAT IMMER RECHT ALSO HALTET EURE SCHNAUZE.

Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgten die Menschen, die im Winter 1983/83 an den Geschehnissen Anteil genommen hatten, deshalb im September 2000 das Verfahren zur Wiedergutmachung. Mit Erschrecken musste man zur Kenntnis nehmen, das die Berliner Generalstaatsanwaltschaft in den Urteilen nur eine „Ahndung gewöhnlichen kriminellen Unrechts“ sah, ohne den politischen Kontext zu beachten. Erst in einem weiteren Verfahren gelang es, die Wiedergutmachung durchzusetzen.

 

 

Graffiti im Storkower Tunnel, 1983. 40 Jahre Malaktion im Storkower Tunnel. Landschaften, Sonnen, Märchen und Fabelwesen, Häuser, Blumen und Tiere waren die Motive, die von den 20 Tunnelmalerinnen und -malern ausgewählt wurden. Sechs Personen wurden sofort inhaftiert und im Frühjahr 1984 in einem inszenierten Prozess vor geladenem Publikum zu sieben Monaten Haft und Geldstrafen verurteilt. Bundesarchiv MfS AU 4414-85 Bd. 4.


Das Projekt 40 Jahre Malaktion im Storkower Tunnel wird mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, durch das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, den Bezirkskulturfonds Berlin, die Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft e.V. und den Zeitzeiger.Berlin e.V. unterstützt.

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