Titelbild mit Arnold Hackbarth | Foto: Giovanni Lo Curto

„Und natürlich gab es auch etwas zu essen.“

Arnold Hackbarth hat viele Geschichten erlebt | Foto: Giovanni Lo Curto
Fremdenverkehrsökonom und Erzähler Arnold Hackbarth in seinem Lieblingssessel / Foto: Giovanni Lo Curto /

Arnold Hackbarth über die schweren Jahre während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Friedrichshain.

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„Ich bin ein alter Friedrichshainer“, sagt mir Herr Hackbarth am Telefon. „Ich kann eine Menge berichten“. Als Redakteur darf man eine solche Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Schnell sind wir verabredet. Mir öffnet ein mittelgroßer, schlanker, fast schmaler Mann, der mich aufmerksam und auch mit Neugier anschaut. Im Wohnzimmer seiner kleinen Wohnung aus den 1950er Jahren macht er es sich in seinem Lehnsessel bequem, beugt sich zu mir hinüber und beginnt zu erzählen.

Hier arbeitete früher Arnold Hackbarths Vater | Foto: Dirk Moldt
Das ehemalige Waagehäuschen, in dem der Vater Arnold Hackbarth arbeitete, zwischen den ehemaligen Hammelställen an der Proskauer Straße beherbergt heute einen Kiosk.                              / Foto: Dirk Moldt /

Der Schlachthof als Hauptarbeitgeber

Aufgewachsen ist Arnold Hackbarth in der Weisbachstraße, die nach Valentin Weisbach (1843–1899) benannt ist. Der Bankier und Kunstmäzen war Mitbegründer und erster Vorsitzender des „Vereins zur Verbesserung der kleinen Wohnungen in Berlin“ und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, gesundes Wohnen mit Bädern, großen Fenstern und ohne dunkle Hinterhöfe auch für einfache Leute zu ermöglichen. 1891 kaufte Weisbach die Grundstücke um die heutige Weisbachstraße, die durch Adolf Messel zwischen 1899 und 1905 bebaut wurden. Größtenteils haben sie den Krieg überstanden.
„Mein Vater war Wiegemeister und arbeitete auf dem Schlachthof, dem größten Arbeitgeber in der Gegend. Er hatte die Waage unter sich.“ Das Wiegen der Tiere war eine Dienstleistung, die von den Fleischern bezahlt werden musste. „Viele in der Nachbarschaft waren Fleischer und etwa die Hälfte meiner Klasse wurde es auch, ebenso mein älterer Bruder.“ Sicher spielte in der schwierigen Zeit auch der Gedanke eine Rolle, immer gutes Essen zu bekommen. In den anliegenden Straßen zum Zentralviehhof hatten sich kleine Geschäfte etabliert, die den Schlachthof belieferten: Werkzeug- und Reparatur-Läden, Läden für Hauklötze, Gewürzläden und ähnliche.
„Dann wurde mein Vater Hallenmeister der Markthalle am Alexanderplatz.“ Diese Halle bestand wegen ihrer verkehrsgünstigen und zentralen Lage aus zwei Bereichen. Es gab die Markthalle I für Endverbraucher und die Markthalle Ia für Großabnehmer. Die Kühl-, Heiz- und Lüftungstechnik, über die der Vater Verantwortung trug, befand sich zum Teil unter den S-Bahnbögen. „Mit Zügen kam Obst aus warmen Ländern, zum Beispiel aus Spanien. Und morgens um vier Uhr kamen die Bauern aus Malchow und Hohenschönhausen mit ihren Gemüsewagen.“ Eine Erinnerung lässt Herrn Hackbarth auflachen: „Das Gemüse von den Rieselfeldern roch immer etwas komisch. Selbst wenn man den Kohl kochte, roch man durch das ganze Haus, wo er her kam.“

Sammelleidenschaft | Foto: Giovanni Lo Curto
Matchbox-Autos, Schnapsfläschchen, kleine Figuren – Herr Hackbarth ist auch ein passionierter Sammler. / Foto: Giovanni Lo Curto /

Überleben in Kriegszeiten

„1941 wurde ich in die Hausburgschule eingeschult, bis 1943, dann hörte die Schule dort auf. Die meisten Schüler waren ohnehin nach Pommern oder Ostpreußen verschickt worden.“ Für ein paar Tage hatte er in der Zellestraße Schule, dann einige Wochen lang in der Straßmannstraße, schließlich in der Schule in der Eckertstraße, die, wie einige Wohnhäuser auch, dort nach einem Bombentreffer während des Krieges neu errichtet worden war. Weil sie nicht ausreichend mit Luftschutzkellern versehen war, musste er einmal bis zum großen Bunker im Friedrichshain rennen, um Schutz zu finden. Dort hatte er ein traumatisches Erlebnis. „Ich lief beim Voralarm los und kam am Bunker an, als die ersten Flugzeuge schon über uns waren und die Flak auf dem Bunker zu schießen begann. Eine Menge Leute drängte sich noch vor den Eingängen und schrie vor Angst.“
Der Junge verhakte sich mit seinem Fuß in die Speichen eines Kinderwagens, stürzte und geriet unter die panische Menge. „Gerettet haben mich ein paar polnische Frauen, die gar nicht in den Bunker durften. Sie machten Soldaten auf ihn aufmerksam, die ihn unter der Menge hervorholten. „Ich werde nie was Böses über polnische Frauen sagen“, resümiert er.
Anfang 1943 erhielt die Familie eine schreckliche Nachricht. Ein Nazi-Funktionär trat auf die Mutter zu und erkundigte sich, ob sie Frau Hackbarth wäre. „Da wusste sie gleich, was passiert war, denn die Briefe des Bruders waren schon längere Zeit ausgeblieben.“ Am 20. Januar, genau an dessen Geburtstag, wurde der Bruder als im Kaukasus gefallen gemeldet. „Mein Vater durfte sich noch 300 Mark Sterbegeld abholen“, erinnert sich Herr Hackbarth mit Bitterkeit. „Doch der hat das Geld zurückgewiesen und gesagt: ‚Dafür habe ich meinen Sohn nicht großgezogen!‘ Er war ja selbst im Ersten Weltkrieg gewesen und ist dort verwundet worden.“
Überraschung und Freude waren riesengroß, als zu Weihnachten 1945 eine Klappkarte eintraf, auf der sich der tot geglaubte Sohn aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft meldete. Noch immer ist Herrn Hackbarth die Aufregung anzusehen. „Es war unser schönstes Weihnachten! Wir hatten nichts zu essen, aber waren glücklich. Und das ganze Haus hat sich mit uns gefreut.“ Ansonsten war die Bilanz des Krieges traurig: die Onkel und ein Cousin waren gefallen.
Es dauerte aber noch bis 1949, bis der Bruder zurück kam. Dann arbeitete er wieder auf dem Schlachthof. „Einmal, als ich noch in der Schule in der Eckhardtstraße war, organisierte ich einen Klassenausflug in den Schlachthof“, erinnert sich Herr Hackbarth und lacht auf. „Da hätte ich alle Lehrer der Schule mitnehmen können, weil alle so hungrig waren. Mein Bruder hat uns dort empfangen und alles gezeigt. Und natürlich gab es auch etwas zu essen.“

Friedrichshain in der Nachkriegszeit

Das Leben im Nachkriegsberlin war nicht einfach. Alles war auf der Suche nach Nahrung. „Wir hatten zu Hause ein paar Stück Seife aus Sand, die schön dufteten. So eins bot ich einem Pförtner im Schlachthof an, einem Sowjetsoldaten – die Sowjets hatten die Bewachung des Schlachthofs übernommen. Ich bekam ein Stück Brot dafür. Meine Schwester gab mir am nächsten Tag wieder ein Stück Seife, um daraus Brot zu machen, aber der Pförtner drohte mir schon aus der Entfernung. Er hatte geglaubt, ein richtiges Stück Seife bekommen zu haben.“
Ein anderes Mal, so erinnert sich Herr Hackbarth, wurden lauter Kühe durch die Hausburgstraße zum Schlachthof getrieben. „Die ganze Straße war voll mit Kuhdung. Wir wollten von den Kühen Milch abmelken, aber da kam nichts raus. Die waren klapperdürre, richtige Skelette.“
„Meine Schwester wohnte in der Schreinerstraße, in der Nähe des Hauses, wo sie den Werner Gladow geschnappt haben. Aber es gab auch kleinere, jüngere Jugendbanden, die von Diebstahl und Raub lebten, zum Beispiel in der Gabelsberger Straße. „Die nannten sich „die Gasse“ und waren sechs bis zehn Leute, die durch Friedrichshain zogen und den Kindern alles abnahmen: Geld, Stullen und so was. Erwachsene Männer gab es hier in der ersten Zeit nach dem Krieg kaum.“
Nach dem Krieg wurde es mit der Schule zunächst nicht besser. „Einmal hatten wir Schule in einem Gebäude im Hof an der Ecke Danziger Straße/ Landsberger Allee, wo jetzt die Neubauten stehen. Da gab es keine Türen und Fenster. Es war furchtbar kalt. Die Lehrerin gab uns nur unsere Aufgaben und dann konnten wir nach Hause gehen.“ Auch in der Hausburgschule waren keine Türen und Fenster mehr. „Ich erinnere mich, dass wir da einmal im Kreis auf dem Hof gesessen haben und Unterricht hatten.“ Die letzten Jahre bis Ende der Neunten Klasse lernte der junge Hackbarth in der Schule in der Pettenkoferstraße. Diese besondere Neunte Klasse in der Nachkriegszeit wurde für Schüler eingerichtet, die wegen des Krieges nur unregelmäßig die Schule besuchten und diente vor allem der Wiederholung des Schulstoffes der vorherigen Klassen. „Unseren Lehrer dort haben wir sehr gemocht. Er war nur ein paar Jahre älter als wir und hat uns gut angesprochen.“

Bei einer Veranstaltung des Reisebüros der DDR-Hauptstadt | Foto: privat
Bei einer Veranstaltung des Reisebüros der DDR-Hauptstadt in den 1970er Jahren. / Foto: privat /

Vom Kaufmann zum Tourismusfachmann

Nach der Lehre wurde Arnold Hackbarth Außenhandelskaufmann beim Deutschen Innen- und Außenhandel. „Wir hatten uns beim Arbeitsamt zu melden, als die Schule vorbei war. Da waren wohl um die dreihundert ehemalige Schüler, die ihren Berufswunsch dem Amt mitteilten. Ich hatte Glück, dass ich zu den zwanzig gehörte, die vom Deutschen Innen- und Außenhandel ausgewählt wurden.“. Doch weil sich bald abzeichnete, dass er mit seiner Westverwandtschaft beim DDR-Außenhandel keine großen Aufstiegschancen hatte, sattelte er beruflich um. „Ich hatte immer ein Interesse an Sport und Sportwettkämpfen und organisierte auch selbst welche mit.“ So stieg Herr Hackbarth in die junge DDR-Tourismusbranche ein und baute sie mit auf. „Das wurde zuerst von Ehrenamtlichen getragen“, erinnert er sich. „Es war nicht leicht, Leute dafür zu gewinnen. Und man musste mitunter alles machen, etwa Betten aufstellen und beziehen.“ Studenten oder andere Leute mit Fremdsprachenkenntnissen wurde gern genommen, „sogar Mediziner!“ Immer wieder gab es auch Schwarze Schafe, die versuchten, ihre Situation auszunutzen. „Damals haben die Reiseleiter eine Menge Bargeld mit sich rumgeschleppt, weil die Hotels sofort bezahlt werden mussten.“
Fünf Jahre Fernstudium Anfang der 1960er Jahre, je eine Woche im Monat in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, belasteten auch das Familienleben. „Meine Frau musste da ganz schön was leisten.“ Sie war als junges Mädchen mit ihren Eltern aus Neuruppin in die Weisbachstraße gezogen. „Da hab ich sie mir geangelt“, bemerkt Arnold Hackbarth lapidar. „Ich habe drei Söhne und zwei Töchter. Alle sind was geworden.“
Der Arbeitspatz des frischgebackenen Ökonomen für Fremdenverkehr war im Haus des Reisens am Alexanderplatz, das jetzt unter Denkmalschutz steht. Eine vielseitige Arbeit. Herr Hackbarth organisierte nicht nur Reisen, er konnte auch selbst als Fremdenführer einspringen. Fremdenverkehr war in der DDR organisiert und auch reglementiert. Es gab sogar eine eigene Abteilung für Tourismus beim Magistrat.
Für ihn kam die Wende 1990 zu spät, um sich selbstständig zu machen. „Vielleicht, wenn meine Tochter mitgemacht hätte. So aber nutzte er sein Rentendasein, um Reisen zu unternehmen. Manchmal verreist er noch für zwei-drei Tage, aber immer nur in Deutschland.
Den gegenwärtig in Friedrichshain ausufernden Tourismus sieht der Fremdenverkehrsökonom skeptisch: „Es kümmert sich keiner drum. Die Leute machen nachts Krach, viel geht kaputt. Manche benutzen den Spielplatz als Toilette!“ Das Problem der Achtlosigkeit einiger Touristen und falsch verstandenes Laissez Faire sind ein großen Problem geworden.
Menschen, die unsere Stadt nach dem Krieg aufgebaut haben, gibt es nicht mehr viele. Sie können uns dazu ermahnen, dass der Wohlstand, der uns umgibt, nicht selbstverständlich ist.

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