Über den Versuch, einen Tunnel von Kreuzberg nach Mitte zu graben
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Hier wurde keine Weltgeschichte geschrieben, an dieser Straßenecke Berlin, Bethaniendamm/Köpenicker Straße, aber fast. Ein beinahe ununterbrochener Verkehrsfluss hält den Wanderer an der Ampel auf. Nach rechts Kreuzberg, nach links Mitte und wer über die Schillingbrücke läuft, kommt in Friedrichshain an, ein Dreiländereck also.
Wie heute war die Köpenicker Straße vor dem Mauerbau eine Ost-West Magistrale und wegen vieler Kneipen und Bars sehr beliebt. Jugendliche aus Ost und West schätzten den Stella-Palast. Einst Großkino und Varietébühne, seit dem 18. Juli 1950 jedoch ein „Grenzkino“, mit ermäßigtem Eintritt für „Ostbesucher“. Geschätzt wegen Filme wie „Automarder von Chicago“, oder „Der Würger von Paris“.
Einmalige Kneipenlandschaft
Nur fünf Gehminuten vom Stella-Palast, an der Kreuzung Bethaniendamm, Köpenicker Straße, stand die Grenzquelle. Eine windschiefe Hütte, deren Eingang drei Meter vom Ostberliner Territorium entfernt lag.
Die Grenzquelle war eine Bar mit dem Imbiss Futterecke und bot bis zum Mauerbau am 13. August 1961 Unterschlupf für Flüchtige, die z.B. aus Friedrichshain ankamen. Weil aber diese Kneipe als ein Ost-Westberliner Halbstarkentreff galt, interessierte das außer Polizisten niemanden.
Wegen einer Tanzfläche mit Musikbox war außerdem die Kneipe Marianneneck, bei den Jugendlichen vom Dreiländereck angesagt. Nach dem Mauerbau gingen dem Stella-Palast schnell die Besucher aus und in der Grenzquelle endete der kleine Grenzverkehr.
Fluchtgedanken
Einige Friedrichshainer Stammgäste vom Marianneneck – manche hatten in der Grenzquelle gewohnt – überlegten, wie sie ihre Freunde und Familienmitglieder in den Westen holen konnten. Eine Flucht über die Mauer war lebensgefährlich. Dafür kam das Graben eines Tunnels als Möglichkeit ins Gespräch, der vom Bierkeller der Grenzquelle bis zu einem Eckhaus gegenüber am Fritz-Heckert-Damm (heute Engeldamm) gehen sollte, wo sich ehemals ein Kino befand. In einer Mischung aus Abenteuerlust, Wut auf den Sozialismus und Idealismus wurde der Bau im Juli 1962 begonnen. Freundinnen versorgten die Tunnelbauer mit Essbarem aus der Futterecke.
Die Futterecke wurde gern von Westberliner Polizisten und alliierten Soldaten zum Rasten genutzt, auch Anwohner kamen zum kurzen Plausch. Unter ihnen die MfS-Kontaktpersonen (KP) „Giese“ und „Schröder“. Solche „KP“ galten für die Stasi „als vertrauenswürdige DDR-Bürger, die zur Lösung bestimmter Aufgaben angesprochen“ wurden, weder aber verpflichtet, noch angeworben.
Das MfS war eingeweiht
Am 17. Juli 1962 erfuhr Genosse Ziemann von der Arbeitsgruppe Passkontrolle und Fahndung: „Drei Männer haben einen Stollen bis bereits 10 m ins Staatsgebiet vorangetrieben“, der „alle 2 m mit Brettern abgestützt sei“ und „einer der Beteiligten habe rote Haare und das Gesicht voller Sommersprossen.“ MfS-Major Knippel ließ das Gelände unauffällig besichtigen und kam zur Erkenntnis, dass die „Provokateure“ auf die Wasserrohre einer stillgelegten Toilettenanlage gestoßen seien und das Vorhaben deshalb gescheitert sei. Mit der Absicht, den halbfertigen Stollen aufzugraben, wurden die KP „Giese“ und „Schröder“ aufgefordert, Näheres zum Stand der Dinge aufzuklären. Sie meldeten am 7. August 1962, dass fünf Tunnelbauer im Alter zwischen 19 und 25 Jahren daran beteiligt wären. Alle waren kurz vor dem Mauerbau aus Friedrichshain nach Kreuzberg gekommen. Zwei wollten ihre Eltern schleusen und für jede weitere Schleusung stünden 10.000 Mark in Aussicht.
Der Wirt vom Marianneneck schien eingeweiht und stellte Kontakte her, offenbar um Sponsoren für den Tunnelbau zu gewinnen. Solche Projekte verursachten wegen der Gerätschaften und Transporte erhebliche Kosten.
Über freundschaftliche Kontakte kamen die KP auch in die Räume der Grenzquelle, ohne jedoch etwas Auffälliges zu finden. Allerdings gelangten sie nicht in den Bierkeller. Beim Versuch, hier ein Sicherheitsschloss zu knacken, hörten die Eindringlinge Stimmen und jemand kam an die Tür, ohne sie zu öffnen. Die beiden Agenten des MfS fertigten eine Lagezeichnung und einige Fotos vom Ort an.
„Vorgang Biskaya“ unter MfS-Beobachtung
Die Abteilung Aufklärung des MfS begann nun minutiös alle Vorgänge um die „Biskaya“, diesen Namen hatte der Vorgang erhalten, aufzuschreiben. Am 18. August wurden Bretter angeliefert, am 20. August brachte ein KFZ mit Berliner Kennzeichen 32 Federbetten, um 18.40 Uhr verließ „ein LKW mit Sand vollbeladen“ den Ort. Polizisten schienen eingeweiht zu sein und sicherten im Laufe der Grabung die Eingänge zur Grenzquelle.
Offenbar war die Beobachtung so auffällig, dass es zu Ablenkungsaktionen kam: „Eine männliche Person schlug wie ein Christ mit der Hand ein Kreuz“ (am 21. August), oder „ein Mädchen ca. 16 Jahre alt, versuchte sich vor der Biskaya zu entkleiden“ (am 22. August). Außer den fünf Tunnelaktiven wurden 15 Unterstützer zwischen 19 und 50 Jahren beobachtet. Die 1. Grenzbrigade setzte Abhörtechnik ein.
Budenzauber mit Fluchtversuch?
Anhand der Arbeitsgeräusche stellte das MfS fest, dass der Tunnel in fünf Metern Tiefe lag und 15 Meter ins DDR-Gebiet eingedrungen war. Zielrichtung waren die Häuser Fritz-Heckert-Straße 12/14.
Am 7. September 1962 sollte in der Grenzquelle ein „Budenzauber“ stattfinden. Die KP waren eingeladen und erfuhren, dass in der Fritz-Heckert-Str. 14 eine Frau wohnte, deren Bruder „oft in der Biskaya“ war. Sie veranstaltete häufig Partys mit vielen „unbekannten Jugendlichen“, wie eine KP aus ihrem Hause miteilte. Das MfS vermutete deshalb, dass am Tag der Feier am 7. September auch die Schleusung stattfinden sollte.
Doch einen Tag vorher erfuhr KP „Giese“ vom Abbruch der Aktion. Man sei an einer Betonmauer gescheitert und „würde sich nicht mehr drum kümmern“. Zudem „wäre der Chef von der Grenzquelle mit Polizei und Amis gekommen“ und hätte „alles zugeschippt“. So endete die Fluchtaktion.
Zwischen September 1961 bis August 1973 wurden in Berlin insgesamt 39 Fluchttunnel gegraben. In den 70er Jahren kamen auf Westberliner Seite infolge von Abrissarbeiten Teile des Tunnels an der Köpeniker Straße zum Vorschein. Die Westberliner KP „Giese“ und „Schröder“ wurden nie enttarnt, die Namen fast aller Beteiligten dieser Aktion sind bis heute unbekannt.