Geschichte und Zukunft der ehemaligen Möbelfabrik.
von Hajo Toppius / Antje Öklesund.
Noch ist dieser Hof in vielfacher Hinsicht schräg. Im Gegensatz zu der Umgebungsbebauung ist auf dem Gelände an der Rigaer Straße 71–73 A ein Anstieg zu spüren, von der Straße bis hin zum Ende des Grundstücks, denn der Hof ist wesentlich älter als die Nachbargebäude. Damals wurde noch nicht an das Straßenniveau angepasst, sondern in die Schräge hineingebaut.
Aber auch andere Sachen sind hier schräg: die Ruinengebäude, die Birke, die aus der Wand wächst, an einer Stelle, an der bis ins 19. Jahrhundert die Latrinen waren, als es noch keine Kanalisation gab. Diese Elemente haben den Hof zu etwas Besonderem gemacht. Zu einem Ort, der aus der Zeit fällt, der architektonisch im Kiez einen Bruch im besten Sinne darstellt – oder dargestellt hat, denn lange wird es den Hof nicht mehr geben.
Seit mittlerweile mehr als vier Jahren läuft ein Verhandlungsprozess zwischen den neuen Besitzern (dem großen Immobilienunternehmen CG Gruppe), dem Bezirk, einer Mieterinitiative und Anwohnern. Es ist der Versuch, etwas zu retten.
Historische Struktur und Atmosphäre
Als der Gewerbehof entstand, waren um ihn herum noch Felder und unendlich viel Platz. Weder die Samariterkirche noch der Schlachthof existierten. Dort, wo es jetzt enger und wo heftig gestritten, wo jeder verfügbare Zentimeter bebaut und verkauft wird, da waren im 19. Jahrhundert Wiesen und Felder, die zum Dorf Lichtenberg gehörten. Die Keimzelle des Hofes entstand unter Federführung des Landmaschinenfabrikanten Heinrich Eckert. Nach Maßgabe der Allgemeinen Arbeiter-Wohlfahrt baute er 1875/76 zwei straßenseitig liegende Wohnhäuser und zwei zurückliegende Gebäude, in denen zwischenzeitlich eine Schule und Ställe untergebracht waren.
Die kürzlich trotz Denkmalschutz abgerissenen Häuser sind in einer ganz besonderen Bauweise entstanden: Sie sind aus Schlackebeton.
Nicht lange im Besitz Eckerts
1885 kaufte der damals 30-jährige Robert Seelisch das Anwesen und wohnte auch selbst dort. Er gab dem Areal seine prägende Funktion: über viele Jahre war es eine Möbelfabrik. Diese Fabrik steht exemplarisch für die rasante Entwicklung des Nordkiezes. Ende des 19. Jahrhunderts stand die stetig erweiterte Fabrik noch auf der grünen Wiese. Aber der sogenannte Wilhelminische Gürtel, die Bebauung des damaligen Berliner Stadtrandes mit den typischen gründerzeitlichen Mietskasernen, griff auch im Nordkiez des Friedrichshain um sich, wo zwischen 1900 und 1910 die gesamte Nachbarschaft bebaut wurde – und Seelisch konnte sie mit Möbeln ausstatten!
Exemplarisch für die deutsche Geschichte
Nach dem ersten Weltkrieg wurde der Gewerbehof verkauft. Der emsige, aber offenbar inzwischen verstorbene Seelisch hatte den Besitz an seine Frau Gertrud weitergeben, die ihn zunächst an die Brüder Simon und Mechel Beiser verpachtete und 1918 an sie verkaufte. Die Brüder betrieben die Möbelfabrik bis 1938 weiter, mussten jedoch aufgrund ihrer jüdischen Herkunft das Gelände unter Druck an die Firma Max Schlötter verkaufen, die hier Rüstungsgüter produzierte. Die Brüder Beiser wurden ermordet, Mechel Beiser 1942 gemeinsam mit seiner Frau Rosalie in Riga und Simon Beiser entweder im Warschauer Ghetto oder – wahrscheinlicher – im Vernichtungslager Treblinka. Stolpersteine in Charlottenburg erinnern an die beiden. Auf dem Gelände in der Rigaer Straße 71–73 A ist bis heute kein Gedenkort vorhanden.
Schlötter wurde 1945 enteignet und die Nutzung des Hofes ging in verschiedene Richtungen: Werkstätten, aber auch Büros der Staatsicherheit und des Wehrkreiskommandos waren hier untergebracht. Nach der Wende wurde das Gelände an die Erben der Brüder Beiser rückübertragen.
Eine architektonische Leerstelle und ein Freiraum
Nach 1990 gehörte die Rigaer Straße 71–73 A zu den Arealen, die den besonderen Charme des Friedrichshainer Nordkiezes ausmachten und Platz für unterschiedlichste Nutzungen bot. Von 2005 bis 2016 befand sich hier auch der Projektraum Antje Öklesund, ein Ort, der wie so viele andere nur in diesem Umfeld entstehen konnte. Von Künstlern und Bastlern als Zwischennutzung ins Leben gerufen, um hier zu proben, mit Kunstinstallationen zu experimentieren, Konzerte aufzuführen und Partys zu feiern. Zu den historischen Räumlichkeiten gab es dabei von Beginn an einen besonderen Bezug. Zahlreiche Ausstellungen und Aktionen folgten. Aber der Druck von Seiten der Immobilienwirtschaft stieg an, denn die Freiräume, beziehungsweise die Immobilien wurden wertvoller.
Den Charme zu retten und im Kiez aktiv bleiben
So entstand eine Interessengemeinschaft aus Mietern, die sich früh für die Erhaltung des Ensembles und von Gewerbe im Kiez engagierte. Wie schwierig und streitbar dieser Ansatz ist, war damals schon klar. In zähen Verhandlungen zwischen dem Investor, dem Bezirk und der Interessengemeinschaft entstand die Idee eines Kulturhofs: eine Art Forum für den Kiez, in dem Gewerbe und historische Bausubstanz erhalten bleibt und Raum geschaffen wird für die Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen, die die Nachbarschaft betreffen. Trotz zahlreicher öffentlicher Diskussionen und Veranstaltungen seit 2010 kam es vor allem ab Frühjahr 2016 zu erheblicher Kritik an diesem Ansatz. Eine Auseinandersetzung, wie sie in dieser Zeit in der gesamten Rigaer Straße stattfand, wird hier exemplarisch ausgefochten. Nachbarschaftsgärten, selbst entwickelte Kulturräume, Proberäume – bei keinem der zahlreichen Bauprojekte der letzten Jahre, die den Nordkiez förmlich überrollt haben, ist etwas von den ehemaligen Nutzungen übrig geblieben. Es wäre zu wünschen, wenn die Verhandlungen und Auseinandersetzungen der letzten Jahre dazu führen würden, dass am Ende zumindest etwas vom Zauber der historischen Substanz und der ehemaligen Nutzung des schönen alten Gewerbehofs erhalten bleibt!