Leben in einer Friedrichshainer Mietskaserne 1984 – 1988.
Wer spricht von den alltäglichen Dingen des Lebens vor dreißig-vierzig Jahren? Dabei ist es gar nicht so schlecht, auch einmal an den Alltag von damals zu erinnern. Er unterschied sich beträchtlich vom heutigen. Diese Anregung verdanken wir unserer Leserin Christina Schröder, die uns ihre damalige Wohnsituation im Haus Glatzer Straße 7, Ecke Boxhagener Straße schilderte.
Im Seitenflügel waren von den acht Wohnungen nur fünf oder sechs bewohnt, das Erdgeschoss stand leer. Alle Mieter, sehr nette Leute um die 30, sahen ihre Wohnung als Übergang an und hatten Wohnungsanträge zu laufen, ich auch. Hier wohnten ganz verschiedene Leute. So zum Beispiel ein Reichsbahnerpaar mit Tandem, ein Profi-Fotograf, der ohne Fernsehgerät lebte. Mich beeindruckte das damals, doch zehn Jahre später habe ich das auch so gemacht. Es gab auch eine Fernsehansagerin, die bald beim DDR-Jugendsender „elf99“ arbeitete. Auch ein Koch aus der Klubgaststätte Drushba am Betriebsbahnhof Rummelsburg wohnte hier und ein junger Mann mit einem Motorrad, der in der am meisten baufälligen Wohnung in der ersten Etage wohnte. Im Flur war kein Putz mehr an der Wand. In der Wohnung züchtete er Kaninchen. Wenn er im Hof an seiner roten MZ schraubte, ließ er manchmal auch die Kinder mitmachen. Er ging nicht zur Wahl, so dass der Abschnittsbevollmächtigte immer vorbei kam, wenn wieder eine Wahl ins Haus stand es, um ihn zum Wählengehen zu bewegen. Wir mochten ihn alle, den jungen Mann.
Nicht einfach aber gütlich
Es war ein friedliches Mit- und Nebeneinander. Im Seitenflügel haben wir uns gut verstanden, es gab Gespräche im Treppenhaus oder auf dem Hof. Unsere Wohnung lag im Seitenfl ügel, in der vierten Etage rechts, hatte Ofenheizung und Innentoilette – immerhin. Denn auf der linken Seite mussten die Mieter Außentoiletten benutzen, deren Rohre in der kalten Jahreszeit oft einfroren. Dann ging ein Mieter ins Klempnerbüro in die Kinzigstaße, um Hilfe zu holen. Niemand im Haus hatte ein Telefon, mit dem Schäden hätten gemeldet werden können. Eigentlich war niemand motiviert, sich um Hausreparaturen zu kümmern, aber manchmal war es eben doch dringend notwendig. Der Klempner Klaus Hoffmann aus der Kinzigstraße hatte Mitgefühl und kam immer schnellstens. Auf eigene Kosten Duschen mit Elektroboilern einzubauen, wurde nicht genehmigt, weil die Gegend im sogenannten „roten Kreis“ lag. Dort war die Kapazität der Stromleitungen längst an ihre Grenzen gekommen. Voller Staub und Kabelsalat war der Dachboden. Dort befanden sich die Fernsehantennen. Die Kabel hingen aus der Dachluke heraus und führten an der Fassade entlang in die Wohnungen. Und doch hatte die Wohnung eine gewisse Poesie: der Blick über die alten Dächer war herrlich, mit Schnee oder ohne Schnee, und man konnte den Schornsteinfeger bei der Arbeit beobachten.
Nervende Behördengänge
Oft waren mehrere Besuche im nahen Büro der Kommunalen Wohnungsverwaltung in der Krossener Straße nötig, um Reparaturbedarf anzumelden. Mal stand kein Material zur Verfügung, dann waren die „Kapazitäten“ erschöpft – womit Handwerksleistungen gemeint waren. In einem stark verqualmtem Raum arbeiteten mehrere Mitarbeiter, es war immer unruhig darin, Gespräche, Aufregungen, rauer Umgangston untereinander – aber höflich mit den Mietern –, Telefonklingeln, Kommen und Gehen. Die Ordner in den Regalen waren voll bis übervoll und in die Fächer gequetscht. Wurden ein-zwei Ordner entnommen, dann geriet der ganze Rest in Schieflage vor lauter Übergewicht. Mehrmals bin ich in diesem Raum gewesen, weil die erste Treppe in unserem Seitenflügel repariert werden musste, denn vom Boden her breitete sich ein Schwamm aus. Mehrere Holzstufen waren schon morsch und brachen nach und nach ein. An einer Stufe wuchs ein Pilz, handgroß. Ging man an der Wand oder mit Festhalten am Geländer nach oben, glückte dies unfallfrei. Aber ich fürchtete, dass meinem Sohn, damals in der 1. Klasse und Schlüsselkind, etwas passieren könnte. Die Wohnungsverwaltung hatte kein Geld, ich sollte später wiederkommen, auch der spätere Termin brachte keinen Reparaturauftrag und so ging das monatelang: Eingaben an den Rat des Stadtbezirks und an weitere Stellen – kein Erfolg. Eine aussichtsreiche Adresse für Eingaben sollte der Berliner SED-Vorsitzende Konrad Naumann sein, hörte ich. Dorthin schrieb ich schließlich. Plötzlich war es eine Sache von ein paar Tagen, dass Handwerker ins Haus kamen und die Treppe solide ausbesserten. Auch den Pilz nahmen sie mit. Zur Abnahme erhielt ich eine schriftliche und sehr höfliche Einladung, zwei oder drei Leute waren anwesend, ich habe mich bedankt. Vielleicht fanden in diesem Jahr Wahlen statt oder ein Parteitag? Ich kann mich nicht erinnern.
Berliner Milieu
Im Vorderhaus waren die Wohnungen deutlich besser, da wohnte Parterre Frau König, eine alte Dame, die alles mitbekam und den Kindern, die ihr halfen, Westsüßigkeiten schenkte. Dann gab es einen Musiker der Staatsoper im mittleren Alter und Eddi, ein stiller junger Mann, der mit seiner Mutter in einem Haushalt lebte. Ständig wurde er von ihr laut ausgemeckert. Er pflegte das bisschen Grün im Hof. Nennenswert als Nachbar ist der Friseursalon von Meister Karl-Heinz Dossmann in der Weserstraße 15. Er hat das Milieu in der Gegend mit seinem Berliner Humor mitgeprägt. Immer einen flotten Spruch auf den Lippen: „Hamse schimmlije Wände in Ihrer Wohnung?“ „Nee, wieso?“ „Ihre Haare sind hier anne Seite schon so grau.“ In seinem Salon war es immer unterhaltsam. Perestroika wurde ausgiebig diskutiert, Meister Dossmann hatte zwar Verständnis für die Sympathisanten, meinte aber: „Gorbatschow is ooch nich der wahre Jakob.“ Hier kursierten auch immer politische Witze. Ab 1988 etwa bekamen alle aus dem Seitenflügel eine bessere Wohnung bis auf den jungen Mann. Er sicher auch später, aber das habe ich dann nicht mehr mitbekommen.
Sehr interessant. Ich wohne um die Ecke!