Entwerter/Oder | Ein Experiment, das scheitern kann

Der Künstler und Herausgeber Uwe Warnke
Der Künstler und Herausgeber Uwe Warnke

Der Künstler und Herausgeber Uwe Warnke

Von

Für den Herbst 2015 ist das Erscheinen der ersten Nummer der Zeitschrift geplant, die hundertste Ausgabe kommt zum Jahresende. Das klingt rätselhaft, aber nicht, wenn man weiß, dass jene erste Ausgabe ein Reprint ist. 1982 erschien in Friedrichshain erstmalig die Kunst­zeitschrift Entwerter/Oder. Uwe Warnke hat bis heute 99 Ausgaben betreut und ist seit 1983 alleiniger Herausgeber.
Dass es bis Ende der 1980er Jahre etwa 200 nicht genehmigte und überwiegend wider­ständige Zeitschriftentitel in der DDR gab, wird von den Geschichtsschreibern gern übersehen. Jene müssten sich dann nämlich auch den Mühen unterziehen, herauszubekommen, was die Widerständigen damals wirklich dachten und schrieben. Auch den von Künstlern ungefragt herausgegebenen Künstlerzeitschriften wird nur von Wenigen Aufmerksamkeit geschenkt. Obwohl sich Vorträge, Magister- und Doktorarbeiten und Ausstellungen damit beschäftigen, scheint sich nur ein kleiner Kreis von Künstlern und Liebhabern außergewöhnlicher Drucke zu interessieren – zu Unrecht. Denn Entwerter/Oder ist ein Meilenstein.

 Uwe Warnke (links) mit Siegmar Körner Anfang der 1980er Jahre, (unbekannter Fotograf )
Uwe Warnke (links) mit Siegmar Körner Anfang der 1980er Jahre, (unbekannter Fotograf )

Nach Berlin!

Als der aus Schwerin stammende und in Dresden frisch examinierte Diplomingenieur für Kartografie 1981 nach Potsdam vermittelt wurde, war er seinem Wunschziel ein großes Stück näher gekommen. „Ich wollte nach Berlin“, sagt der fast schmal wirkende, sehr lebendig auftretende Herausgeber mit einnehmendem Lächeln. Ein Wohnungstausch verschlug ihn ein dreiviertel Jahr später in die Wühlischstraße 30, die zufällig in Friedrichshain liegt. Seitdem ist er Friedrichshainer. „Ich hatte kein besonderes Bedürfnis, später nach Prenzlauer Berg zu ziehen, wo viele andere hin wollten. Ich mochte die Zurückgezogenheit im proletarischen Milieu.“

Noch ohne Computer und IKEA-Stifthalter. Schreibtisch Mitte der 1980er Jahre / Foto: Uwe Warnke /
Noch ohne Computer und IKEA-Stifthalter. Schreibtisch Mitte der 1980er Jahre / Foto: Uwe Warnke /

Einfach machen

Im Gepäck waren eigene Texte, die keine Chance auf Veröffentlichung hatten. Er wollte sie zusammen mit seinem damaligen Freund aus Dresdner Tagen, Siegmar Körner, der ebenfalls für die Schublade schrieb und auch in Berlin angekommen war, irgendwie selbstbestimmt herausbringen. „Noch im Jahr des Umzugs gründeten wir Entwerter/Oder.“ Der Name ist ein Wortspiel, wie so manche damals im Umlauf waren: „Zum Bleistift“ oder „Was bleibt mir Walter Ulbricht?“ und andere mehr.  Das waren Witze auf die Sprachfloskeln der Funktionäre.
Dass offizielle DDR-Publikationen bestimmte Kunstrichtungen und kritische Künstler stets ausgrenzen würden, war nichts Neues. Neu war die sich immer deutlicher durchsetzende Ansicht: Wer in der DDR-Presse publiziert, auf den überträgt sich auch deren Unaufrichtigkeit.
Der Wunsch nach einem eigenen unzensierten Medium lag in der Luft. Die Idee war simpel: Jeder Künstler oder Autor, der etwas zu einer Ausgabe beitrug, hatte seine Arbeiten, ob Texte, Drucke oder Fotografien, selbst zu vervielfältigen und bekam nach Fertig­stellung dafür ein gebundenes Exemplar. Ebenso der Buchbinder Hinrich Peters, der bis in die 1990er Jahre in der Niederbarnimstraße eine eigene Werkstatt hatte und noch heute jede Ausgabe bindet. Sollten Exemplare übrig sein, gingen sie an andere Initiativen oder interessierte Freunde.
War das nicht verboten? „Wie mans nimmt,“ antwortet Uwe Warnke. „Es war damals von der Existenz eines DDR-Gesetzes die Rede, das Kunstdrucke und darin integrierte Texte bis zu einer Auflage von 99 Stück nicht ausdrücklich verbot.“ Allerdings hat es eine solche Bestimmung, wie sich später herausstellte, nie gegeben. Entwerter/Oder erschien illegal und war die erste Publikation ihrer Art, die dann auch den Weg in die Öffentlichkeit wagte. Andere folgten bald. Die erste Nummer hatte eine Auflage von gerade einmal vier Exemplaren. Doch der wichtigste Schritt war getan. Noch im selben Jahr erschien eine weitere Ausgabe. Bis 1989 wurden es 38. Die Auflagen stiegen langsam auf 25 Exemplare.

Berlin, 1982: Titelblatt der ersten Entwerter/Oder-Ausgabe. Entwurf: Siegmar Körner
Berlin, 1982: Titelblatt der ersten Entwerter/Oder-Ausgabe. Entwurf: Siegmar Körner

Kunst durchsetzen

Sehr schnell wurde die Staatssicherheit aufmerksam, die natürlich einen Gesetzesverstoß konstatierte. Eine Akte wurde angelegt. Doch überwog die Befürchtung, dass eine strafrechtliche Verfolgung wegen der vermeintlich geringen Wirkung der Hefte nicht lohnenswert sei und durch zu erwartende Medienberichte im Westen vielleicht mehr Schaden anrichten könne. Dennoch blieb das MfS an ihm dran. Man beließ es beim Beobachten und Material-Sammeln. „Eine Nachbarin berichtete mir umgehend, wenn sich wieder jemand für mich interessiert und im Haus Informationen eingeholt hatte.“
Nicht nur für die Herausgabe sondern auch für die Beteiligung jedes einzelnen Künstlers an diesem Projekt gehörte Courage. Auch deshalb wurde die Zeitschrift mit ihrer eigenwilligen Kombination aus Texten, Zeichnungen, Fotografie und Grafik zu einem gefragten Medium in der alternativen Kunstszene. Umso empfindlicher wurden Schienbeintritte wahrgenommen, wie der aufsehenerregende Beitrag, der unter Pseudonym in der Westberliner Stadtzeitung zitty 1985 erschien, in dem es hieß, dass im Entwerter/Oder darüber nachgedacht werde, „wie man im Samisdat-Verfahren ein Bömbchen basteln kann.“ Wer steckte hinter dieser Falschmeldung? „Das war eine gezielte Indiskretion und Verbalattacke, um uns zu schaden,“ kommentiert Warnke.

Terminkärtchen Entwerter/Oder, Berlin 1988
Terminkärtchen Entwerter/Oder, Berlin 1988

Erste Erfolge

Wenig ausrichten konnte die Staatssicherheit dagegen, dass Enthusiasten wie Uwe Warnke Netzwerker waren. Er beteiligte sich an Künstlertreffen und an der Organisation kurzer, nicht genehmigter und mittels Mundpropaganda angekündigter Ausstellungen, Lesungen und Konzerte. Als im Frühsommer 1984 bekannt wurde, dass die Gasometer, die Wahrzeichen des Bezirks Prenzlauer Berg, gesprengt werden sollten, kam die erste Sondernummer von Entwerter/Oder heraus. Die zweite erschien anlässlich des „Letzten deutschen Kunstsalons“, als ihm und seinen Freunden im Herbst 1984 für zwei Tage eine Wohnung in der Kollwitzstraße 50 in Prenzlauer Berg für Ausstellung und Lesungen angeboten wurde. Bis zum Ende der DDR erschienen neun Sondernummern, inzwischen sind es 28.
Zur 20. Ausgabe im März 1986 wurde für einen Tag eine Wohnung in der Rigaer Straße 3 für ein Kunsthappening besetzt. Im Juni 1986 war das Blatt einen Monat lang an der Ausstellung „wort und werk“ in der Samariterkirche neben zahlreichen anderen der Kunst verpflichteten Zeitschrifteninitiativen beteiligt, die alle in der DDR illegal erschienen und natürlich nirgendwo sonst ausgestellt wurden. Bis heute gilt diese Ausstellung als erste und wesentliche Überblicksausstellung in der Geschichte der selbstbestimmten, jungen Kunst- und Literaturszene in der DDR.
Versuche, mit den jeweiligen Autoren des Entwerter/Oder eine kleine Leserunde im Hauskreis zu etablieren, schlugen dagegen fehl. Dafür meldete sich 1987 die Sächsische Landesbibliothek Dresden, die die Zeitschrift erwerben wollte. Schmunzelnd zeigt Uwe Warnke das entsprechende Schreiben, das der verantwortliche Mitarbeiter der Bibliothek mit den Worten einleitete: „Ich erfuhr Ihre Zuständigkeit für ‚Entwerter/Oder‘.“ Zuständig für etwas, das es offiziell gar nicht gab. Warnke setzte durch, dass die Zeitschrift nicht im Giftschrank der Bibliothek verschwand, sondern von jedem Besucher gelesen werden konnte. Dass man auch längst u. a. in Marbach, Bremen und Frankfurt/Main die Zeitschrift sammelte, wurde nicht jedem auf die Nase gebunden.

Andere Bedingungen nach 1989

Mit der Revolution und der Deutschen Einheit änderte sich vieles für DDR-Künstler. Erleichternd waren natürlich der Wegfall der Zensur und die Reisefreiheit. Nachteilig wirkten sich hingegen die gestiegenen Lebenshaltungskosten aus. ABM-Projekte wurden nur für wenige Jahre unterstützt. Für Uwe Warnke keine Alternative. Es musste auch so gehen. Ein ihm 1991 zuerkannter Preis half, Zweifel auszuräumen: „Es ist ein Unterschied zu bemerken, ob Künstler für einen Markt oder Ausdruck suchend aus dem Bauch arbeiten“, sagt der Herausgeber und warnt: „Wenn Kunst ausschließlich für den Markt hergestellt wird, geht das schnell schief und verkauft sich schließlich doch nicht.“ Warnke selbst hatte durch Entwerter/Oder bereits einen gewissen Stand in der Szene und auch im Westen erreicht. Er gründete einen Verlag, entschied sich aber bald, nur noch Buchkunst und Editionen zu produzieren; auch unikate Malerbücher, die speziellen Sammlern angeboten werden. Inzwischen gehört Uwe Warnke zu den Experten seines Fachs, der auch international bei Ausstellungen, Vorträgen und Publikationen gefragt ist. Ein großer Erfolg war die 2012 in der Berlinischen Galerie stattgefundene Fotoausstellung: „Geschlossene Gesellschaft. Künstlerische Fotografie in der DDR 1949 bis 1989“, die er mit kuratierte.

Doppelseite aus dem handgemalten Buch „Maria beim Bade“ von Ottfried Ziehlke, 32 x 60 cm, Unikat, Berlin 2008
Doppelseite aus dem handgemalten Buch „Maria beim Bade“ von Ottfried Ziehlke, 32 x 60 cm, Unikat, Berlin 2008

Mehr als Kunst

Wer glaubt, Uwe Warnke würde sich ausschließlich in künstlerischen Sphären bewegen, irrt. Er engagiert sich auch als Mietervertreter in der Wohngenossenschaft und in der Betroffenenvertretung, die sich für eine anwohnerfreundlichere Verlegung der Straßenbahnlinie zum Bahnhof Ostkreuz einsetzt.
Auf meine Frage, wie sich der Bezirk in den Jahren gewandelt hat, weist er auf die Dauerparty der Touristen in der Nähe des Ostkreuzes, die zu Lasten der Anwohner geht. Viele Einwohner seien längst weggezogen. Neuzugezogene bilden mit dem Geld ihrer Eltern Wohneigentum. Auch nicht unbedingt Warnkes Fall. „Mir hat die Urwüchsigkeit, das Direkte der Arbeiter, die hier wohnten, immer gut gefallen. Mittlerweile sieht man nicht nur diese nicht mehr, sondern auch keine alten Leute mehr auf der Straße.“ Auf meinen Einwand, dass wir nun selbst die alten Leute wären, lacht er und konkretisiert: „Ich meine solche, denen man schon mal über die Straße helfen muss.“
Die Zeitschrift Entwerter/Oder produziert er weiter, und zwar in genau der gleichen Weise wie zuvor. Kleine Auflagen, Handarbeit, ausgewählte Künstler, die seiner Meinung nach zusammen passen. „Jede Ausgabe von Entwerter/Oder ist ein Experiment, das auch scheitern kann. Das wäre aber nicht tragisch,“ kommentiert er. Ein Langzeitexperiment  – die Nummer 100 steht an – das immerhin schon 33 Jahre andauert und dem noch sehr viel Puste für weitere Jahre zu wünschen ist. Zu sehen sind die Zeitschriften auf
www.entwerter-oder.de

 

 

Was sagst Du dazu?

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert