Auf den Spuren des Verlegers Friedrich Nicolai in der Blumengasse 8.
Die 1713 von Christoph Gottlieb Nicolai gegründete Nicolai-Verlagsanstalt ist der älteste Berliner Verlag. Vor allem durch das couragierte und das überaus fleißige Engagement seines Sohnes Friedrich Nicolai (1733–1811) wurde der Verlag zu einer Instanz in der deutschen Kulturgeschichte und machte Berlin zu einem international angesehenen Publikationsort. Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Ludwig Tieck, Streiter der Aufklärung, sie publizierten bei Nicolai, wie viele andere auch.
Hinter dem Stadtrand
Kurz hinter der Westgrenze des heutigen Friedrichshains residierte bis zu seinem Tod eben jener Friedrich Nicolai in seinem Gartenhaus in der Lehmgasse, die 1816 aufgrund einer Petition der Anwohner den schöner klingenden Namen Blumengasse erhielt. Diese ging von der Alexanderstraße ab, die ursprünglich als militärischer Abwehrgraben Contrescarpe hieß. Ihre Pflasterung endete auf der Höhe des Grünen Wegs, heute Singerstraße. „Da gewährte uns bei Regenwetter ein geschicktes Springen und Hüpfen von Stein zu Stein die größte Lust.“ So erinnerte sich Nicolais Enkel Gustav Partey im Jahre 1871 – dann selbst ein betagter 73jähriger Mann.
Wegen seiner Größe wurde das Gartenhaus Lehmschloss und später Blumenschloss genannt. Aus dem oberen Stockwerk sah man in Richtung Westen über die Gärten hinweg auf die Silhouette Berlins, auf der anderen Seite nach Osten zum Frankfurter Tor. Dieses befand sich damals an der Stelle, wo heute die Straße der Pariser Kommune die Karl-Marx-Allee kreuzt. Das Schlösschen war die Sommerresidenz der Familie, die es in den warmen Tagen im Nicolai-Haus in der Brüderstraße nicht aushielt. Sobald die ersten warmen Tage Berlin streiften, zog man mit Sack und Pack und Betten auf Leiterwagen hinaus. Zurück ging es erst, wenn die letzten warmen Herbsttage vorbei waren.
Auch beim Ausruhen tätig
Parthey schrieb: „Nicolais Zimmer lag neben der Terrasse, hatte nicht allein grüne Tapeten, sondern auch grüne Möbel, und hohe Akazien vor dem Fenster verbreiteten darin eine ahnungsvolle Dämmerung. Am Fenster stand ein grüner Schreibtisch mit allem Zubehör: denn auch in diesen Stunden der Erholung konnte Nicolai nicht ohne Beschäftigung sein. […] In dem Wandschranke links von der Thür befand sich eine kleine Gartenbibliothek, sie enthielt Werke über Botanik und Gärtnerei, Hirschfelds Gartenkunst, Dietrichs botanisches Lexikon, ferner Thomsons Jahreszeiten und andre ältere englische Dichter, die ich später an schwülen Sommernachmittagen mit innigem Ergötzen durchkostete.“
Es heißt, dass alle, die seinerzeit literarisch, politisch, künstlerisch oder philosophisch von Bedeutung waren, oder einfach nur etwas auf sich hielten, bei Nicolai vorzusprechen beliebten. Und weil der Verleger selbst ein offenes Haus pflegte, haben zahlreiche Geistesgrößen des 18. Jahrhunderts den Boden des heutigen Friedrichshains betreten. Carl Ludwig Willdenow, ein Botaniker, der mit anderen die Dendrologie entwickelte, Alexander von Humboldt, Martin Heinrich Klaproth, ein Chemiker, der unter anderem das Uran entdeckte und Johann Joachim Christoph Bode sind die Wenigen, an die sich Parthey als alter Mann noch erinnerte.
Mit dem Spitz gegen Bettler
Den jungen Parthey interessierte anderes: Da war zum Beispiel der kleine schwarze Spitz namens Wasser, der tagsüber angekettet Fremde auszubellen hatte und erst abends frei gelassen wurde. Dann tobte er ungestüm durch den Garten, jagte sämtliche Hühner und Hähne auf die Äste, allein Glucken mit Küken lehrten ihn das Fürchten. „Warum heißt der Hund Wasser?“ fragte Gustav seinen berühmten Großvater. Der erklärte, dass der Junge selbst diesen Namen bestimmt habe, weil ihm das F zu schwer auszusprechen fiel. Eigentlich habe der Hund „Fasser“ heißen sollen. Er sollte die Bettler fassen. So widersprüchlich sind die Menschen: Der berühmte Friedrich Nicolai, einerseits Aufklärer und Humanist, andererseits ließ er seinen Spitz auf Bettler los!
Als der Spitz an Altersschwäche starb, weinten die Kinder bitterlich. Gustav Parthey gab offen zu, dass seine kindliche Natur vom Tod des Lieblings tiefer erschüttert wurde, als durch den ihres Gärtners Couturier, eines Angehörigen der Französischen Gemeinde, den er so beschrieb: „Wenn er Sonntags manchmal nach der französischen Kirche ging, so trug er den langen hellblauen Bratenrock mit blanken, fast thalergroßen Knöpfen, einen ungeheuren dreieckigen Hut, graue Unterkleider, unförmliche Stulpenstiefeln, einen schwarzen Haarbeutel und ein großes spanisches Rohr“. Courtrier erhängte sich in dieser Festmontur an einem Balken im Schuppen des Lehmschlossgrundstücks, weil er nicht darüber hinweg kam, dass seine einzige Tochter 1812 zusammen mit einem französischen Offizier als Marketenderin nach Russland gezogen war, von wo sie nie mehr zurückkehrte.
Der große Brand
Seinen besten Anzug trug übrigens auch Friedrich Nicolai, als 1809 der Turm der Petrikirche niederbrannte und die Bewohner der nahegelegenen Brüderstraße angesichts des Funkenregens das Schlimmste für ihre Häuser fürchteten. Der Turm der Friedrichs-Waisenhauskirche fing ebenfalls Feuer und brannte völlig nieder. In der Spree trieben zahlreiche brennende Holzkohlestücke. Im schönsten Ornat trat der Verleger seinem Schwiegersohn, der sich sorgenvoll durch militärische Absperrungen zur Brüderstraße durchgekämpft hatte, mit den Worten entgegen, dass alles weniger Wertvolle nun verbrennen möge, so es Gottes Wille sei.
In späteren Jahren wurde es ruhig in der Sommerresidenz. Nur noch selten besuchte der Großvater den großen Garten, fuhr am Sonnabend hinaus, blieb den Sonntag und fuhr am Montag früh zurück. „Sonntags früh sahen wir wohl bisweilen die lange hagre Gestalt des Großvaters durch den Garten wandeln, aber es fiel uns nicht ein, ihn zu begleiten, da wir vor seinem ernsten trocknen Wesen eine unüberwindliche Scheu empfanden.“Die herrliche Gartenpracht ist durch die alles zermalmende Walze des Mietskasernenbaus im 19. Jahrhundert zerstört und überbaut worden. Im Zweiten Weltkrieg gab es wieder Zerstörung und danach wieder Aufbau. Nichts erinnert mehr an das Kinderparadies.
Nicht dem Namen gerecht
Mit dem jüngsten Verkauf des Nicolai-Verlags im Februar 2016 wurde eine Etappe des Niedergangs eingeleitet. Das Verlagsprofil der neuen Eigentümerin lautet: Themen der Aufklärung für das 21. Jahrhundert definieren, zentrale Fragen der Gegenwart aufgreifen und in einem populärwissenschaftlichen Kontext publizieren. Was für eine geschwurbelte Darstellung! Publiziert wird Buntes, Seichtes, Beliebiges, allzu gut Verkäufliches – unter einem hochkarätigen Namen. Möge der Verlag noch lange Bestand haben, aber möge er sich vor allem wieder seiner großartigen geistigen und humanistischen Traditionen besinnen.