Handel im Wandel in Friedrichshain im Juli 1990.
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Es war ein Sonnabend. Die milden Temperaturen und die frische Luft dieser Frühsommernacht ließen viele Sorgen vergessen, denn es ging um nichts weniger als einen Abschied für immer. Gehasst und verachtet war die „Mark der DDR“. Jetzt in der Nacht vom 30. Juni 1990 zum 1. Juli 1990, wurde es zum Abschied von einer verkannten Geliebten. Allerorten wurden Währungspartys gefeiert, mitunter tönte es aus den Lautsprechern „Tanz den Mussolini“ zum privaten Feuerwerk auf dem Spielplatz.
Ordnung am Ende
Marianne Bock sah der neuen Zeit erwartungsvoll entgegen. Vergangenheit war die Zeit, als sie das private Bestattungshaus „Vormals Ellrich“ von ihrer Großmutter Ursula Seidenschnur übernehmen wollte. Sie wäre nur eine Enkelin zweiten Grades, wurde ihr 1971 von der Abteilung Wirtschaft Friedrichshain mitgeteilt und „private Erbfolgen“, waren ausgeschlossen. Und im Fall, dass ihre Mutter, die Chefin des Bestattungshauses, ausschiede, wäre das städtische Bestattungswesen sehr wohl in der Lage, den Bedarf abzudecken. 1978 starb die Mutter. Mit viel Überzeugungsarbeit konnte Marianne Bock den Betrieb weiterführen, der seit drei Generationen zur Familie gehörte. Es war ein steter Kampf um Material, denn die „Privaten“ litten unter knappen Zuteilungen. Allerdings Produzenten und Lieferanten unterstützten sich gegenseitig. „Die Bock in der Scharnweber 53 hat noch“, hieß es, wenn Särge fehlten. Eine ihrer Erfahrungen nach dem 30. Juni 1990 war: „Die armen Rentner sind gar nicht so arm!“ Vor allem wegen dem Service leisteten sich viele Bürger die 1.800 DM für eine Feuerbestattung oder 2.400 DM für eine Erdbestattung, inklusive Redner, Dekoration, Beleuchtung und Grabstelle.
Ende mit Fragezeichen
Nur ein wenig Ordnung in der Unordnung erlebte der 35-jährige Henry Scheil. Von klein auf hatte er das Handwerk seines Vaters gelernt und bestand 1981 die Prüfung zum Böttchermeister. Es lief super. Saunabecken, Gurkenfässer und Pflanzenkübel aus Holz waren sehr gefragt. Vor allem aber Weinfässer, denn die Werkstatt von Henry Scheil lag auf dem Gelände der Berliner Weingroßkellerei an der Landsberger Allee, damals noch Leninallee. Hier befand sich immerhin das größte Weinlager der DDR. Über die Treuhandgesellschaft kam das Gelände an einen Investor. Der schickte dem Handwerker eine Kündigung mit der Drohung, den Strom zu kappen. Weder lagen belastbare Unterlagen noch eine Baugenehmigung für den Investor vor. Henry Scheil blieb hart, ignorierte zwei Räumungstermine und suchte nach neuen Werkstatträumen. Leider ohne Erfolg. In seiner Not ging er zur Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF). Die Haltung von Torsten Tragsdorf, dem Vorsteher des Gewerbeamtes, war, jenen Unternehmen eine Perspektive zu geben, die aufgrund von Investvorhaben oder Baumaßnahmen Gefahr liefen, verdrängt zu werden. Im Verbund mit dem Gewerbeamt wurde die Arbeitsgruppe „Gewerbeverlagerung“ gegründet. Tragsdorf sagte: „Private Vermittler wenden sich wegen höherer und schnellerer Renditen an Unternehmensberater, Rechtsanwälte und Apotheker. In der Innenstadt sind nur wenige Räumlichkeiten für traditionelle Handwerker geeignet. Im Fall von Böttchermeister Scheil, der keine Bestellungen von großen Betrieben bekommt, der wegen seiner unsicheren Raumfrage langfristige Aufträge derzeit abschlägt, der Gefahr läuft, gegenüber lukrativeren Gewerben bei der Mietzahlung nicht mithalten zu können, bei ihm wird die Hilfe des Bezirksamtes notwendig. Unser Ziel ist es, eine Lobby für das produzierende Gewerbe zu schaffen“. Durch die Vermittlung über das Gewerbeamt konnte Henry Scheil eine leerstehende Tischlerei in der Scharnweberstraße 2 übernehmen. Heute gerät dieser Mix aus Immobilienmanagement und mittelständischem Unternehmertum, der 1990 half, Arbeitsplätze zu bewahren, wegen seiner Interessenlagen in die Kritik.
Antworten auf Fragen
Elmar Pieroth, seit Juni 1990 im Magistrat als Wirtschaftsstadtrat und Bundesvorsitzender der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU, schätzte nach seinen Worten die Qualität von DDR-Produkten. Er sagte: „daß Berlin seit dem Mauerfall ein Magnet für westdeutsche und europäische Investoren ist. Leider wollten nur 8,5 Prozent ihr Geld in den produzierenden Bereich stecken. Aber viel wichtiger als die Investoren von außen wäre das, was die Berlinerinnen und Berliner aus eigener Kraft schaffen“. Allerdings, „die Sachsen gründen drei bis fünfmal häufiger als die Berliner eine Firma“. Kein Argument für ihn wären fehlende Gewerberäume. Eine 60köpfige Arbeitsgruppe konnte aus 460 Objekten 135 als leer ermitteln. Läden in guter Geschäftslage wurden offiziell für 15 Mark pro Quadratmeter an den „Konsum“ vermietet. Böse Zungen wisperten allerdings von 0,50 bis einer Mark fürs Quadrat. „Rückrat wäre unbedingt notwendig“, sagte Pieroth, „denn fast der gesamte Handel konnte zum Beispiel den Offerten der großen westdeutschen Handelsunternehmen nicht widerstehen“. Hierfür hatte Pieroth einen guten Tipp auf Lager: „Alle drei Wochen für die Joghurtschachteln ein neues Outfit. Für Hemden alle drei Monate.“
Frage nach dem Woher
In der Kaufhalle Singerstraße fand Pieroths Empfehlung zum schnellen Verbrauch seine Anwendung: beim Warenverhältnis West-Ost 80 : 20 lagen Mehl, Zucker, Marmelade, Feinwaschmittel, Tütensuppen, Kopfwaschmittel aus dem VEB zwar nicht auf dem Wühltisch, aber in der „Billig“-Gitterbox. Reichlich und preiswert war das Frischfleischangebot am Fleischstand der Konsum-Kaufhalle in der Rigaer Straße, die vom Berliner Fleischkombinat beliefert wurde. Neue Ware zu besorgen wurde aber wieder zum Abenteuer. In großem Tempo verschwand der einstige Großhandel. Entweder abgewickelt oder unter Treuhand. Bis zum Jahresende 1990 verloren über 4.400 Berliner Konsum-Mitarbeiter ihre Arbeit. 1998 gab Elmar Pieroth wegen Amtsmüdigkeit seinen Posten auf. Der Hintergrund: in den Weinen seines Handelsunternehmens wurde Glykol entdeckt. Eine Chemikalie, die dem Wein mehr Süße gibt.