Wie ich kriminell wurde.
Ein Bekenntnis von Helene Mierscheid.
Als ich 1999 in die Samariterstraße zog, kam ich einmal gerade vom damals noch existenten Handwerkermarkt „Holz Possling“ zurück, bog von der Proskauer Straße in die Rigaer und fand mich plötzlich inmitten einer Hundertschaft Polizisten in Kampfmontur. Als ich mich höflich erkundigte, was gegeben würde, meinte einer nur mürrisch: Da läuft eine Party mit zu lauter Musik. Ich fragte nochmal nach. Gleiches Ergebnis: Party mit zu lauter Musik. „Dafür brauchen Sie dann gleich eine Hundertschaft?“ Er sah mich nur verächtlich an. „Sie kennen diese Leute hier nicht. Die sind gefährlich!“ Ich wurde als einzige Passantin nicht gefilzt, weil ich einen schicken Mantel trug und mein Haar keine Dreadlocks aufwies. Dabei hatte ich gefährliche Waffen dabei: Kleiderhaken und rohe Eier.
Kürzlich gab es in Berlin eine Meldung, die vom Berliner Kurier und der BZ etwas unterschiedlich interpretiert wurde. Die Kriminalitätsstatistik. Der Berliner Kurier schrieb, dass Berlin immer gefährlicher würde und die BZ, dass die Kriminalität zurückgegangen sei. Skurrilerweise hatten beide recht, weil die Zahl der Straftaten zwar zurückgegangen ist, die Taten selber dafür aber immer brutaler werden.
Nun möchte ich endlich ganz dazugehören. Also versuche ich mich wenigstens durch kleine Ordnungswidrigkeiten sozial zu integrieren. So ging ich kürzlich mutwillig bei Rot über die Ampel – ein Passant rief mir lediglich hinterher: „Wohl’n Blindenhund vajessen, wa?“. Es ist hier nicht ganz einfach, als Kriminelle ernst genommen zu werden.
Kriminell wurde ich in Bonn an einem Montagmorgen.
Früher habe ich in Bonn gelebt, da war das anders. Der amerikanische Schriftsteller John le Carré hat über Bonn gesagt: Entweder es regnet oder die Bahnschranken sind geschlossen. Außerdem sei die Stadt zwar nur halb so groß wie der Friedhof von Chicago, dafür aber doppelt so tot. Das stimmt natürlich nicht. Manchmal regnet es UND die Schranken sind zu.
Wer Bonn kennt, der kennt auch die Fußgängerampel am Friedensplatz. Das ist ein langer Fußweg mit einer sehr kurzen Grünphase. Wenn die Stadt Geld benötigt, was bei Städten ja eigentlich immer der Fall ist, braucht sie nur einen Verkehrspolizisten zu positionieren und abzuwarten.
Ich war spät dran, es war herbstlich kühl und ich hatte eine Mütze auf, ein warmes Cape und einen Schal um und ging so tief vermummt und eilig in Richtung Straßenbahn. Meine Bahn näherte sich von weitem, die Fußgängerampel sprang auf Rot aber ich eilte davon unbeeindruckt über die Straße.
„Hallo Sie!“
Ich ging weiter und hoffte, dass ich nicht gemeint war.
„Hallo Sie!! Die Dame mit dem Hut!“
Es gibt noch mehr Damen mit Hut, außerdem trug ich ja streng genommen eine Mütze.
„Hallo!! Bleiben Sie bitte stehen!!“
Ich blieb stehen aber nur weil ich am Bahnsteig angekommen war.
Jemand zupfte mich an meinem Cape.
Ich sah nach links und unten und da stand ein unglaublich kleiner Polizist neben mir, der ein Fahrrad schob und einen sehr skurrilen Fahrradhelm trug, der ihn aussehen ließ wie ein zu kurz geratenes Alien.
Ich sah ihn fragend an.
„Sie sind bei Rot über die Ampel gegangen.“
„Nein, das bin ich nicht.“
„Doch, ich habe es gesehen – Sie sind bei Rot über die Ampel gegangen.“
„Nein, das bin ich mit Sicherheit nicht. Ich gehe NIE bei Rot über die Ampel.“
„Aber ich habe es GESEHEN!“
Das Spiel konnte nicht ewig so weitergehen, also sah ich ihn schockiert an.
„Sind Sie sicher?“
„Aber ja!“
Ich griff ihn panisch am Arm.
„OH MEIN GOTT! Ich bin bei Rot über die Ampel gegangen? Das ist ja furchtbar! Waren KINDER in der Nähe??“
„Nein, nein, beruhigen Sie sich.“
„Ich mich beruhigen? Wie denn? Das ist ja so fruchtbar! Ich habe so etwas noch nie getan! Sie bestrafen mich doch jetzt, oder? SIE MÜSSEN MICH BESTRAFEN!“
Er sah mich beunruhigt an.
„Nun beruhigen Sie sich doch – es ist doch nur eine Ordnungswidrigkeit.“
„Oh nein! Keinesfalls! Wenn wir so anfangen, wo wollen wir dann enden? Erst die roten Ampeln und was kommt morgen? Sie MÜSSEN MICH BESTRAFEN!!
„Aber nein“, versuchte er mich zu beruhigen, während die anderen Passanten dem Drama immer interessierter lauschten.
Er warf sich in die Brust.
„Ich werde Sie heute nur verwarnen und in Zukunft passen Sie einfach besser auf, ja?“
Ich sah ihn aus großen, dankbaren Augen an.
„Das ist aber SEHR, SEHR nett von Ihnen. Bekommen Sie deswegen jetzt nicht selber Schwierigkeiten?“
Er reckte sich stolz.
„Ich entscheide immer noch selbst, wann ich verwarne und wann ich Strafe zahlen lasse.“
Er ging. Ich hatte 20 Mark gespart. (Für die aufmerksamen Leser: Diese Geschichte spielt vor der Einführung des Euro.)
Die Bahn kam und alle machten sich an den Einstieg. Ich sah dem Polizisten zufrieden grinsend hinterher. Leider drehte er sich genau da um und sah meinen Gesichtsausdruck.
Als ich mich setzte, sah ich durch das verregnete Heckfenster, wie er einen jungen Radfahrer, der bei Rot über die Fußgängerampel geschoben kam, gnadenlos zur Rede stellte und abkassierte. Als der arme Radfahrer diskutieren wollte, wurde der kleine grüne Mann richtig, richtig wütend.
In Berlin ist das ganz anders.
Da mein Berliner Umzugsunternehmen meine wertvollsten Sachen lieber selber behalten hatte – sozusagen als selbstbestimmten Bonus – ging ich zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Als ich nach Büroschluss hinkam, war die Tür verschlossen. Ich klingelte. Schritte näherten sich, die Tür wurde aufgeschlossen. Ich erklärte mein Anliegen, ging rein und der Polizist schloss hinter mir die Tür wieder zu.
„Wieso schließen Sie sich denn ein? Sie sind doch die Polizei?“
Er sah mich nur mürrisch an.
„Wohl komisch, wa?“
Ich setzte mich auf die Wartebank zwischen eine Prostituierte und einem aufgeregten Ehepaar, das einen Verwandten vermisste. Sehr lange passierte nichts – gelangweilte Beamte schlurften über den abgelaufenen Linoleumboden, die Luft war extrem abgestanden. Da die Fenster und Türen wohl immer fest verschlossen blieben atmeten wir Luft, die schon durch viele Lungen gegangen war.
Wir musterten uns schweigend. Jeder dachte sich seinen Teil über den anderen. Ich fand die Prostituierte sehr interessant, deren Makeup so dick aufgetragen war, dass es ihr eigentlich die Tür aufhalten konnte. Der Rock war lediglich ein breiter Gürtel, die Stiefel – faszinierend. Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen.
„Der Diebstahl bitte!“ schrie ein Beamter quer durch die Eingangshalle.
Ich stand auf. Die Prostituierte sah mich nun ihrerseits beeindruckt an. Dass ich klaue, hatte sie mir gar nicht zugetraut.
Epilog
Ich habe in Bonn einmal eine Party gemacht, bei der Livemusik gespielt wurde: Saxophon und Gitarre. Toller Jazz! Nach der zweiten Beschwerde durch Nachbarn vom Haus nebenan kam die Polizei und bat um mehr Ruhe. Sie kamen dann später nochmal mit einem Van voller Beamter. Die hörten eine halbe Stunde genüsslich zu, bevor zwei von ihnen uns höflich baten, die Livemusik nun zu beenden. Das haben wir dann auch gemacht. Die Bonner Polizei hat immer Großdemonstrationen gestemmt und dabei ein sehr erfolgreiches Modell der Deeskalation und des fairen Umgangs gepflegt. Ich vermisse in Berlin den Rhein und diese Haltung.