Friedrichshain 1917.
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Markthändler Haase aus Marzahn stand am 28. Juni 1917 in der Gabriel-Max-Straße. Er wollte Salatköpfe vom Wagen aus verkaufen, für 25 Pfennig das Stück. Zu teuer für die etwa 300 Frauen am Wagen. Sie, die in Zwölfstunden-Schichten bei der Knorrbremse arbeiteten, die, weil die Männer im Krieg waren, auf sich gestellt Kinder zu versorgen hatten. Frauen wurden mit 1,50 Mark pro Tag abgespeist, Männer mit 4 Mark am Tag entlohnt. Die empörten Frauen hatten genug und kippten den Lieferwagen um. Salatköpfe rollten auf die Straße. Jede nahm, was sie bekommen konnte.
Haase sprang aufs Pferd und ritt im Galopp davon. Ebenfalls zur damaligen Berliner Normalität gehörten die Kochtipps für ein bürgerliches Publikum, das für graue Nebel- und schwarze Saatkrähen bis zu 2,90 Mark zahlen konnte. Dieses Geflügel sollte in Butter angebräunt, mit Suppengrün, Zwiebeln und einem ¼ Liter Weißwein abgeschmeckt weich gekocht werden. Das bürgerliche Publikum hatte seine Probleme mit „Polonäsen“. Pelzhändler Lange beschwerte sich am 17. Juli 1916 bei der Polizei: „Kunden hätten ihn angerufen“, weil sie, um in seine Verkaufsräume zu gelangen, „sich nicht durch die Masse drängen wollten“, wie hunderte junger Frauen in langer Reihe vor dem Laden Wuthe in der Großen Frankfurter Straße 75. Um ihren brennenden Hunger zu betäuben, wollten sie dort Kekse und Marmelade kaufen. Obst gab es nur in den Luxusrestaurants, 3 Mark für den Apfel.
Folgen unterschätzt
Im August 1914 begann der Erste Weltkrieg. Die Reichsregierung rechnete mit einem kurzen Krieg. Schon Ende 1914 fehlten infolge von Handelsblockaden, Missernten und Missorganisation die Grundnahrungsmittel.
Die Regierung verkündete Höchstpreisgrenzen. Diese wurden von Großbauern mit dem Argument: „Lieber füttere ich die Schweine mit Gemüse“ als „Kriegssozialismus“ abgelehnt. Von den Berliner Gangster Syndikaten (Ringvereine) organisierte „Zwischenhändler“ kauften ganze Ernten auf und trieben die Preise immer höher. Wegen Preiswucher wurde am 14. Oktober 1915 ein Laden der Großbutterfirma Assmann an der Eberty-/Ecke Straßmannstraße geplündert. Das Absinken der Kartoffelrationen im Frühjahr 1917 führte zu Tumulten vor den Geschäften. Weil die Frauen ihre Kinder mitnehmen mussten, waren diese in Gefahr, erdrückt oder über den Haufen gerannt zu werden. „Selbst Schutzleute sind dem Ansturm gegenüber machtlos“, schrieb Polizeirat Dr. Freiling: „Hunderte warten stundenlang auf Kartoffeln, viele vergeblich. Alle klagen über Hunger, manche unter bitteren Tränen“. Er warnte: „daß die unruhige Stimmung der Bevölkerung in bedenklicher Weise gefördert wird“.
Die Gefahr geht vom Zettel aus
Am 30. März 1917 ordnete der Minister des Innern eine „sorgsame Vorbereitung des Zusammenarbeitens zwischen Militär- und Zivilbehörden für den Fall etwa entstehender innerer Unruhen“ an. Am 10. April 1917 traf eine geheime Meldung beim kaiserlichen Oberkommando ein: „Die bevorstehende Herabsetzung der täglichen Brotmenge hat unter der hiesigen Arbeiterschaft eine große Erbitterung hervorgerufen. Unter der Metallarbeiterschaft herrscht eine starke Aufregung, die politisch ausgenutzt werden wird“.
Zur gleichen Zeit kursierte ein Zettel in den Werkstätten der Knorrbremse, der für den 12. April zu einer internen Betriebsversammlung aufrief und mahnte: „Pünktliches Erscheinen wird erwünscht. Tut eure Pflicht, dann ist der Sieg unser!“ Am Vormittag des 13. April versammelten sich neben Vertrauensleuten des Metallarbeiterarbeiterverbandes der Friedrichshainer Rüstungsbetriebe über 1500 Menschen in der Koppenstraße 28. Jetzt war es heraus: gegen die Hungerrationen sollte demonstriert werden. Auch in der Zeitung war zu lesen: „Trifft man einen Bekannten, dann flüstert er einem zu: Haben Sie schon davon gehört? Hier solls mit der Revolution losgehen!“
Stilles Schreiten
Am 14. April wusste das kaiserliche Oberkommando: „Die Arbeiter sind nicht mehr zu halten. Die Mehrheit beschloss, am Montag früh um 9 Uhr die Betriebe zu verlassen.“ Am 15. April gingen berittene Abteilungen im Hof des Polizeireviers an der Magazinstraße in Bereitschaft. Mit der Parole „Gleiche Löhnung, gleiches Essen und der Krieg wär längst vergessen“, zogen am 16. April tausende Menschen der Friedrichshainer Rüstungsbetriebe Knorr, Pintsch, der Lindström Munitionsfabrik an der Großen Frankfurter Straße 137 und vielen kleinen Firmen wie der Axial Propellerfabrik an der Warschauer Straße 58 zur abgesperrten Innenstadt. 200 Frauen kamen bis zum Lustgarten, wo sie „manierlich und ohne ungebührlichen Ton ihres Weges gingen“ schrieb die Presse, die von einem „Bummel der Bestbezahlten“ sprach, sich über „schlendernde Frauen und Mädchen“ ereiferte, deren Kleidung, „nur mit hohen Kriegslöhnen zu bezahlen sind.“ Diese Demonstration sei „wegen der Absenkung der Brotration eine bodenlose Frivolität dieser Zeit.“Immerhin halten diese Proteste als Landesverrat. Wegen der Ernährungsprobleme gingen am 17. April bei der Auer KG an der Rotherstraße 4000 Leute nicht zur Arbeit, genauso wie 250 Beschäftigte der Firma Bernhard an der Barnimstraße 13, bei Knorr verweigerten 1634 Kollegen den Dienst. Jetzt hieß es: „Wir wollen Brot, Freiheit, Frieden“. „Zur Erringung des Friedens“, ruhte bis zum 21. April bei der Knorrbremse und anderen Kriegswichtigen Betrieben die Produktion.
Am 27. April wurde Martin Gonschior aus der Gürtelstraße 9 wegen Streikunterstützung in „Schutzhaft“ genommen. Er hatte ein Flugblatt dabei, in dem es zur Demonstration und zum Streik hieß, der viele Berliner Betriebe erfasste: „Ohne Belagerungszustand – vielmehr trotz desselben – ohne Zwangsgesetze und militärische Disziplin hat sich eine Proletarierarmee von über 300.000 Arbeiterinnen und Arbeitern – was einer Stärke von 10 Armeekorps entspricht – in wunderbarer Einmütigkeit und Ordnung von selbst mobilisiert“. Doch täglich starben Frauen im Berlin des ersten Weltkrieges an Unterernährung, Überanstrengung, an schweren Unfällen und Vergiftungen in den Rüstungsbetrieben.