Heute ist der einstige „Musterblock“ein Sanierungsfall. Foto: Giovanni Lo Curto

Anka und die Angsteisen

Die Neubauten an der Langen Straße, 1959, Quelle: Privatarchiv
1956: Die Neubauten an der Langen Straße nehmen Gestalt an. / Quelle: Privatarchiv /

Abseits der Stalinallee.

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Bei Kriegsende lebte die Hälfte der Berliner Bevölkerung in Ruinen oder Kellern. Von eineinhalb Millionen Wohnungen vor dem Krieg waren nur noch dreihundertsiebzigtausend bewohnbar. Weitere dreihundertachtzigtausend galten als „leicht beschädigt“. Anfang 1946 wies das Wohnungsamt eine Familie in eine „leicht beschädigte“ Wohnung in der Lange Straße 91 ein. Zu beiden Seiten des Torwegs des einstigen Vorderhauses lag Schutt. Die Ziegelsteine der Außenwand lockerten sich und überall waren Risse in den Wänden. Schwalbennestern gleich klebten die Wohnungen in den Seitenflügeln und dem Quergebäude. Anstelle der Fenster sah man Pappe oder Schalbretter. Fensterrahmen und Scheiben fehlten überall. Notdürftig richtete die Familie einen der feuchtkalten Räume her. Aber plötzlich, am Morgen des 4. Oktober 1948, brach die Zimmerdecke ein. Nur dem Umstand, dass das Ehepaar mit seinem 5jährigen Jungen noch im Bett an der gegenüberliegenden Wand lag, war es zu verdanken, das niemand unter Brettern und Schuttmassen begraben wurde.
1951 sah es nicht besser aus. Unter einer ausgebombten Wohnung in der 2. Etage des Hauses Lange Straße 44 lebte das Ehepaar Brodel. Durch das Notdach – es waren nur ein paar Bretter – drang der Regen ungehindert ein. Öffneten die Brodels ihre Wohnungstür, quoll ihnen ein feuchter, muffiger Dunst entgegen. Heizen war sinnlos. Der Schornstein war einsturzgefährdet, aber Baustoffe kaum vorhanden.

Alt zu Neu

Am 29. Mai 1948 reichte der Architekt Alexander Krewe beim Magistrat ein „Gutachten über das Anka-Ziegelsteinverfahren“ ein. Es sollten keine Ziegelsteine alten Typs hergestellt werden, sondern große Hohlblocksteine, die ein schnelles Bauen ermöglichten. Sie sollten aus „Ziegelbruch unter Zusatz von 10% reiner Tonsubtanz durch Brennen im Ring- oder Zickzackofen bei Temperaturen von 800 Grad gebrannt“ werden. Zur Befeuerung reichte die Hitze von „Abfallkohle“ aus. 70% vom Trümmerschutt und zusätzliche Mörtelzuschlagstoffe ließen sich über dieses Verfahren rückverwenden. In der alten Gemeindeschule am Mühlendamm durften entsprechende Brennöfen in den Kellerräumen installiert werden. An Schwerpunkten wie dem Stralauer Platz oder der Großen Frankfurter Straße, wurden Brechwerke zur Trümmeraufbereitung aufgebaut. Neben Ziegelschnipseln und einem Höllenlärm produzierte das Brechwerk am Stralauer Platz jedoch auch dichte, mit Kieselsäure gesättigte und Silikose gefährdende Staubwolken. Weil sie im Freien standen, liefen die Produktionsanlagen nicht im Winter. Die angelernten Arbeiter wurden dann aus Arbeitsmangel entlassen. Mehr noch: „Aufgrund einer Prüfung“ durch die „Finanzrevision Groß-Berlin“ am 21. August 1954 kam heraus: „das an der Produktionsstätte Strausberger Platz über 600 Tonnen Zement verschwunden waren. Hier bestand der Verdacht auf illegale Geschäfte der Produktionsleiter Krutzkowski und Müller.“ Diese hatten einen Kubikmeter Splitt für zehn Mark verkauft. Kleinigkeiten im Zusammenhang der 50 Millionen Mark, die vom Magistrat zur Produktion von großformatigen Hohlblocksteinen aus Ziegelsplitt eingestellt worden waren.

Heute ist der einstige „Musterblock“ein Sanierungsfall. Foto: Giovanni Lo Curto
2017 ist der einstige „Musterblock“ein Sanierungsfall.
/ Foto: Giovanni Lo Curto /

Serie mit Erker

Im Beisein lokaler Honoratioren grub sich am 1. Juni 1956 ein Bagger an der Lange- Ecke Koppenstraße in den mit Trümmerschutt durchsetzten Boden. Dies waren Vorbereitungen zum Bau zweier fünfgeschossiger Wohnblocks mit 135 Zwei- und Dreizimmerwohnungen. Laut offizieller Worte und unter der kompletten Verwendung von 750 kg schweren Großblöcken sollte hier der „Beginn des industriellen Bauens“ im Süden der Stalinallee eingeleitet werden. Für jede Wohnungseinheit wurden etwa 90 Großblöcke und andere Fertigteile vorgesehen. Bis dahin wussten die Baustatiker die bei der Großblockbauweise auftretenden Kräfte nur schwer einzuschätzen, denn diese Teile waren immer nur für die oberen zwei Stockwerke genutzt worden. Um die Statik zu sichern, baute man als experimentelle Lösung „Angsteisen“ ein, die einzelne Blöcke miteinander verbanden. Weil die Blöcke auf Lastwagen angeliefert und sofort mit Kränen zur direkten Montage gehoben wurden, hieß es Abschied nehmen vom alten Prinzip „ein Stein ein Kalk“, bei dem sich die Maurer wegen jedem Ziegelstein bücken mussten. Das Betonwerk Grünau lieferte Deckenelemente, jedoch mit Längendifferenzen von etlichen Zentimetern, und vor Ort fehlten brauchbare Transportkarren, um die Zusatzstoffe zu bewegen. Für den Innenausbau wurden weitere vorgefertigte Teile verwendet, doch immer wieder kam es hier zu Unstimmigkeiten. Eine am 1. Januar 1957 gegründete „Forschungs- und Entwicklungsstelle für die Industrialisierung der Ausbaugewerke“ sollte es künftig richten. Über ein informatives öffentliches „Baustellenkabinett“ an der Koppenstraße kam heraus, das die geplanten Zimmergrößen von 12 Quadratmeter viel zu klein waren. Jetzt sollten alle Zimmer 14 bis 19 Quadratmeter haben, und jede Wohnung eine 1,50 m tiefe Loggia oder ein breites „französisches Fenster“ erhalten. Die Loggien dienten der Gewichtsumverteilung der Konstruktion und als Erweiterung der dahinter liegenden schmalen Küchen. Am 8. Dezember wurde anlässlich des Richtfestes an der „Großblockbaustelle Lange Straße“ zur neuen rationellen Bauweise gesagt: „Hier wird nach bedeutend moderneren Gesichtspunkten als in der Stalinallee projektiert. Anstatt einer Maurerbrigade von 20 Mann arbeiten hier zwei Maurer, die die Blöcke versetzen. Zwei Arbeiter, die Fugen verschmieren, sowie ein Kranführer und der Anbinder. Mit einem Aufwand von 19.500 DM für eine Zweiraumwohnung liegen hier die Kosten unter der staatlichen Vorgabe von 22.000 DM“. Anlässlich des Besuchs einer Parteidelegation auf der Baustelle am 6. März 1958 betonte Oberbürgermeister Friedrich Ebert: „Dieser Wohnungstyp mit Durchlauferhitzer, Einbauküchen und Wandschränken entspricht der ökonomischen Entwicklung und dem Bedarf unserer Bevölkerung“. Ende 1958 bezogen ausgewählte Mieter die ersten Wohnungen. Heute liegt der Musterbau künftiger Fertigteilsiedlungen im Schatten des Novum Select Hotels.

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