Stephan Korte aus der Betriebsleitung von Talgo Deutschland.
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Wie es heißt, wurde die erste originär Berliner Dampfmaschine auf dem Boden des heutigen Stadtteils Friedrichshain gebaut, und zwar 1815 in der Maschinenbauanstalt von Georg Christian Freund in der Krautgasse. Damals begann hier die Ära der Schwerindustrie. Dass diese in Friedrichshain noch nicht ganz zu Ende ist, klingt im Zeitalter der forcierten Gentrifizierung ungewöhnlich.
Historisches Terrain
Hinter einem unscheinbaren Firmenschild in der Revaler Straße liegt zurückgesetzt ein Werkstor, an dem mich Stephan Korte erwartet, ein großer Mann in Jeans und Pullover, mit einnehmendem Lächeln und festem Händedruck. Er ist einer der beiden Geschäftsführer von Talgo Deutschland. Das Unternehmen nutzt einen kleinen „Schnipsel“ des alten Reichsbahnausbesserungswerks neben dem RAW-Gelände weiterhin zur Aufbereitung von Eisenbahnzügen. Dieser Schnipsel umfasst immerhin das Gleisgelände zwischen Modersohn- und Warschauer Brücke bis zu den S-Bahn-Gleisen sowie noch ein Rangiergelände bis zum Berghain. Ein Gelände mit Geschichte. Vor genau 150 Jahren, am 1. Oktober 1867 wurde hier, in der Nähe des ehemaligen Ostbahnhofs am Küstriner Platz, die Königlich-Preußische Eisenbahn-Reparaturwerkstatt Berlin II eröffnet. Hier wurden die Züge gewartet, die bis nach Königsberg fuhren.
Ungewöhnliche Firmengeschichte
„1993 ließ sich der spanische Eisenbahnbauer Talgo hier nieder, als die Deutsche Bahn Talgo-Züge anschaffte“, erklärt mir Stephan Korte, als wir durch die lange und erstaunlich saubere Wartungshalle entlang offener Waggons, abgestellter Eisenbahngestelle und Servicemodule in sein Büro gehen. Für Technik-Freaks ein Fest: solides Handwerk, Hightech und präzise Dokumentation auf engstem Raum. „Die Züge müssen regelmäßig geprüft und gewartet werden, manche alle 3000 Kilometer. Das ist einmal Paris und zurück.“ Nur wenige wissen, dass die Züge innerhalb von Europa durch fünf unterschiedliche Systeme von Spannungen und Stromstärken in den Oberleitungen wechseln müssen. „Die Züge werden bei Talgo immer zusammen mit Instandhaltungsservice angeboten, was mit der Entstehungsgeschichte der Firma zusammenhängt.“ Der erste Talgo-Zug fuhr 1942 in Spanien, eine futuristisch anmutende glänzende Aluminiumzigarre mit pfiffigen technischen Neuerungen. Als die Firma nach dem Krieg von Amerika, wohin sie emigriert war, zurück nach Spanien kam, verweigerte die Staatsbahn jede Zusammenarbeit. Talgo musste Reisen in den eigenen, schicken Zügen selbst verkaufen und war damit so erfolgreich, dass die Staatsbahn sich nun doch beteiligte. Inzwischen macht das Inlandsgeschäft bei Talgo nur noch 20 Prozent aus und das Berliner Ausbesserungswerk betreut längst auch andere Eisenbahnkunden. In die Firma kam Stephan Korte 1999. Als Eisenbahnfan?
Ingenieur statt Philosoph und Mathematiker
„Nein“, sagt er lachend, „da kann ich nicht mit manchen Kollegen mithalten, die sämtliche Baureihen auswendig kennen.“ In Paderborn, wo er aufwuchs, ist ein großer Segelflugplatz, dort war er 1981 zur Segelflugweltmeisterschaft jeden Tag. Nach der Fachoberschule für Elektrotechnik lernte er Industriemechaniker in einem Betrieb für Flugzeugteile, war sich jedoch bald klar, dass er studieren wollte. Im zweiten Bildungsweg besuchte er einen Abiturkurs auf einer Kolleg-Schule. „Ich wollte nach England, hatte mich in Glasgow umgesehen und mich für die Kombination Mathematik und Philosophie entschieden. Als ich mich erkundigte, wie man den Bafög-Antrag stellt, hieß es, dass allenfalls nur ein Auslandssemester bezahlt wird. Da bin ich wieder abgereist.“ Er studierte dann Maschinenbau an der FH Bremen, eine Fachrichtung, die in der zweiten Hälfte der Studienzeit in London absolviert wurde. „Ein Praktikum brachte mich zu Rolls-Royce, wo Triebwerke für Flugzeuge hergestellt werden.“
In den Betrieb hineingewachsen
Nach Berlin kam Stephan Korte der Liebe wegen. „Die Stadt selbst fand ich zuerst grau und kalt“, erinnert er sich. Zudem verdross ihn die Arbeit als Unternehmensberater in einer kleinen Firma mit groß klingendem Namen. „Als frischgebackener Absolvent musste ich erfahrene Familienunternehmen beraten und kam mir komisch dabei vor.“ Er inserierte seinen Arbeitswunsch als Ingenieur. „Und da hat Talgo angerufen und mich gefragt, ob ich Instandhaltung machen wollte.“ In den ersten Jahren hat die Firma Fachkräfte aus dem Reichsbahnausbesserungswerk und von der S-Bahn eingestellt, junge Leute, gute Facharbeiter, die heutzutage sicher auch studiert hätten. „Die haben richtig was auf dem Kasten. Das war gut für uns.“ Als Stephan Korte 1999 zu Talgo kam, hieß es in der allgemeinen Hysterie um den „Jahr 2000 Bug“, auf die Schnelle eine neue Instandhaltungssoftware zu etablieren. „Das war eine sehr spannende Aufgabe und bedeutete, alle Abläufe im Unternehmen zu beleuchten und zu integrieren“. 2008 beschloss der ehemalige Betriebsleiter anderswo noch einmal ganz von vorn anzufangen. Plötzlich stand die Frage im Raum, wer ihn ersetzt. „Ich hatte, auch wegen meiner damals noch sehr kleinen Kinder, kein Interesse an ausgedehnten Geschäftsreisen und meine Fähigkeiten sah ich nicht im Vertrieb“, so Stepan Korte. Die Lösung bestand in einer Doppelpitze. Sein Kollege Andreas Netzel wurde „Außenminister“ der Niederlassung, während Stephan Korte selbst für alles andere, von Technik bis zum operativem Tagesgeschäft, verantwortlich ist.
Moderne Unternehmensführung
Dass das Ausbesserungswerk mitten in einem Wohnbezirk liegt, ist auch der Betriebsleitung bewusst. Ihr gelang es, die Konzernleitung wegen der Lärmbelästigungen an der Helsingforser Straße zum Kauf einer leisen, batteriebetriebenen Rangierlok zu bewegen. „Auch mit unseren Nachbarn, den Mietern auf dem RAW-Gelände, haben wir ein gutes Verhältnis“, sagt der Betriebsleiter, der selbst gern Rock- und Jazz-Konzerte besucht. Und auch ihn ärgert die Ungewissheit, mit der die hoch motivierten aber finanziell nicht großartig ausgestatteten Kulturstandorte an diesem Ort leben müssen. Investoren träumen von teuren Wohnungen. „Ein neues Wohngebiet wäre auch schlecht für uns, denn ein Industriebetrieb der auch nachts arbeiten muss, verursacht ab und an auch Lärm.“
Talgo Deutschland hat derzeit 113 Mitarbeiter. Ein großer Teil davon hat dabei geholfen, das erste Talgo-Werk in Kasachstan aufzubauen, wozu neben dem fachlichen Wissen auch didaktische Fähigkeiten nötig sind. „Diese und andere Möglichkeiten der Fortbildung versuchen wir unseren Mitarbeitern anzubieten. Leider ist das in den letzten Jahren etwas zu kurz gekommen.“ Talgo hat auch Niederlassungen in den USA, Russland, Usbekistan und in den Emiraten.
Unser Stadtteil ist per Gleisanschluss mit der weiten Welt verbunden, schnell und ökologisch. Die Europäische Investitionsbank ehrte Talgo als nachhaltiges Verkehrsprojekt mit einem Forschungskredit, die deutsche Verkehrspolitik hingegen behandelt die Bahn immer noch stiefmütterlich. Dass sich letzteres bald ändert, kann man dem Unternehmen, seinen Mitarbeitern und übrigens auch dem Weltklima nur wüschen.