Viel Aussicht: Hoch hinaus in Friedrichshain | Quelle: Detlef Krenz

Viel Aussicht

Viel Aussicht: Hoch hinaus in Friedrichshain | Quelle: Detlef Krenz
Neben dem künftig Schönen behauptet sich das Banale. / Quelle: Detlef Krenz /

Hoch hinaus in Friedrichshain.

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Eine „Weltrevolution“ soll stattfinden. „Anstelle eines einzigen Aufzugs, der in einem Schacht nach oben und nach unten fährt, fahren im Multi mehrere Kabinen in einer Dauerschleife in einem Schacht hinauf und im anderen hinunter“, heißt es. Seit 165 Jahren hängen die Aufzugkabinen in einem Gebäude an schweren Seilen. Das soll sich nun durch ein vom Magnetschwebezug Transrapid abgeleitetes Antriebssystem ändern. Linearmotoren erzeugen wandernde Magnetfelder, die Aufzugkabinen werden von diesen mit fast fünf Metern pro Sekunde bewegt. Nicht nur das. Die Aufzugkabinen fahren auf einem Schienensystem im senkrechten wie waagerechten Fahrstuhlschacht. Man kann nicht nur ins 13. Stockwerk, sondern auch bis ans Ende vom Korridor gondeln. „Multi“ heißt das System. Alle 15 bis 20 Sekunden steht eine Kabine zur Verfügung. Aus leichtem Kohlefaser-Verbundmaterial gefertigt, benötigen sie gegenüber einer herkömmlichen Kabine 60 % weniger elektrische Energie. Gedacht für „Supertalls“, Gebäuden von über 300 Metern Höhe.

Umwälzung

Stattfinden soll diese Revolution der Fahrstühle in Friedrichshain. Im Juni 2017 schloss der Technikentwickler Thyssen-Krupp mit dem niederländischen Projektentwickler OVG Real Estate einen Vertrag ab, nach dem dieses „kabellose, vertikal und horizontal befördernde Aufzugssystem“, im „East Side Tower“ zur Anwendung kommen soll. Abgesehen von der Energieersparnis werden über den Einbau der Multi-Schächte bis zu 25 % mehr Platz im Gebäude gewonnen. Übliche Aufzugschächte benötigen bis zu 40 % Gebäuderaum. Solarzellen versorgen das künftige Haus mit Energie. Nur ist das Haus kein Haus, sondern ein 140 Meter hoher Turmbau, der direkt neben der Warschauer Brücke errichtet werden soll. Ein optischer Konkurrent zum Fernsehturm.

Viel Aussicht: Hoch hinaus in Friedrichshain | Quelle: Detlef Krenz
Provisorische Ministädte künden von der neuen Stadt der Investoren. / Quelle: Detlef Krenz /

Einwände

“It’s here not Shanghai or Singapur. It’s Berlin!“, klang es von Senat und Bezirk den Planern des Baues entgegen, der auf 36 Stockwerken 5.000 Arbeitsplätze auf 50.000 m² Fläche für Büros bieten soll. Nicht gegen die moderne Technik wurde protestiert, sondern gegen den Architekturentwurf des Architekten Andy Young vom Kopenhagener Büro der „Bjarke Ingels Group“. Als Skizze wurde ein Mega-Hochhaus, wie es in vielen Städten der Welt den Horizont verschandelt, vorgelegt. Allenfalls aufgelockert durch asymmetrische Terrassen. Manche Betrachter sahen im Entwurf des Turms ein Bergmassiv, andere einen Schiffsbug. Insgesamt mit wenig Bezug zum Standort und zum bezirklichen Selbstverständnis. Nach dem Nutzwert für den Bezirk wurde gefragt und „Grün am Bau“ gefordert. „Bei einem so hohen Gebäude und in dieser Klimazone bekommen wir keinen grünen Dschungel hin“, entgegnete Architekt Young. „Birken wären denkbar“, kam er der Kritik entgegen, zeichnete zwei bis fünf Meter tiefe Terrassen in die Fassade, sagte, bis zu achten Etage soll der Sockel „aus nacktem Beton“ bestehen, „um mit Graffitikunst oder Ähnlichem verziert zu werden“. Das Taktieren der Architekten und des Investors veranlasste den Friedrichshainer Baustadtrat Florian Schmidt zur schwersten Sanktion die möglich ist. Er entzog kurzzeitig die Bauerlaubnis für den Turm. Eine Entscheidung, die heftige Kritik auslöste. Eine Kritik, die viel außer Acht ließ. Direkt neben dem künftigen Turm erstreckt sich die „East Side Mall“. Sie ist optisch sehr auffällig, wird jedoch von der Kundschaft eher verhalten angenommen, was vor allem die Gewerbetreibenden in der Mall verspüren. Einkaufszentren, wie sie auch für den Turm vorgesehen sind, haben in Berlin keine Konjunktur mehr. Der „East Side Tower“ wird sich über dem Areal der Mercedes Benz Arena erheben. Ein Viertel, in dem große Firmen ihre Dependancen haben. Die Steuereinnahmen für den Bezirk bleiben im Vergleich dazu eher bescheiden. Die hier ansässigen Großkonzerne haben und nutzen ihre Möglichkeiten zur Steuerminderung. Amazon hat angekündigt, Großmieter im Turm zu werden und damit Tausende von Arbeitsplätzen im Bezirk zu schaffen. Neue Softwareprodukte sollen hier entwickelt werden. Benötigt werden IT-Spezialisten aller Sparten der Branche. Nun besteht die Mehrheit der Friedrichshainer aber nicht aus IT-Spezialisten. Wie die transkontinental arbeitenden Konzerne, setzt sich auch deren Belegschaft aus international tätigen „Digitalen Nomaden“, hoch qualifizierten Wanderarbeitern, zusammen, die für ihre vorübergehenden Arbeitsverträge eine wenig intensive Bindung zu ihrem Arbeitsort entwickeln können. Der Arbeitsplatzeffekt bleibt für den Bezirk von daher sehr eingeschränkt.

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Viele Geräte sind nötig, um tief in die Erde zu bohren. / Quelle: Detlef Krenz /
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Rohre leiten das Grundwasser für den künfigen Bau ab. / Quelle: Detlef Krenz /

Riese mit Rissen

Einen kritischen Blick auf den künftigen Mieter Amazon hat sich der „Deutsche Mittelstandsverbund“ (ZGV) erlaubt und gab beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine Studie in Auftrag. Deren Kernaussage ist: „Kleine und Mittlere Unternehmen geraten in ein immer größeres Abhängigkeitsverhältnis zu den großen Plattformen, ohne von den auf diesen generierten Daten in gleichem Maße profitieren zu können“. 1959 wurde das deutsche Kartellrecht verabschiedet. Erdöl und Kohle befeuerten die Wirtschaft, heute sind es digitale Daten. Zur Ökonomie der Daten findet sich bislang wenig im Kartellrecht. Diese Lücke haben Onlineplattformen genutzt, um ihre Marktmacht auszubauen. Auf Kosten kleiner und mittlerer Unternehmen wird fast die Hälfte aller deutschen Internet-Einzelhandelsumsätze über Amazon abgewickelt. Um dieser Macht zu begegnen, laufen in den USA Verfahren zur Zerschlagung von Amazon. Die Entwicklung neuer Softwareprodukte besitzt für Amazon höchste Priorität. Ob sich daraus nun eine langfristige Perspektive für den Standort Friedrichshain ableiten lässt, ist offen. Die „Potsdamer Platz City“ mit ihren modernen Hochhäusern, wichtigen Firmenzentralen und der schicken Mall war zur Jahrtausendwende ein viel beachteter Glanzpunkt des „neuen Berlin“. Heute regiert hier der Leerstand, in der Mall breiten sich Ramschläden aus. Aus der „City“ ist eine belebte Geisterstadt geworden.

 

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