Anarchisten in der Lange Straße
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Adolf Schewe, klein, schmächtig, 25 Jahre alt, fühlte sich genervt. Sein Kumpel Kurt Dräger hatte zwei „Schatten“ in schäbiger Kleidung bemerkt. Und die ließen sich nicht abschütteln. Entschlossen ging Schewe auf Herrn Busse und Herrn Zachau zu. Nach kurzem Disput reichte es Schewe. Er schlug mit seinem Schlagring auf Busse ein. Zachau schrie um Hilfe, Schaulustige blieben stehen. Wachtmeister Rühlemann eilte heran und verhaftete Schewe und Dräger. Jedoch, vor dem Hauptportal der Polizeiwache in der Elisabethstraße zog Schewe einen Revolver und schoss. Und, Berufsrisiko von Zivilermittlern, eine Kugel traf Zachau am linken Arm, Busse trug einen Streifschuss auf der rechten Gesichtsseite davon. Schewe ballerte weiter und verfehlte die Herrn Goldgräber und Hoffmann. Diese „Zivis“ hatten sich im Hintergrund gehalten und warfen sich jetzt auf Schewe. Unerkannt flüchtete Dräger in die Wohnung seiner Mutter in der Lange Straße 17. Vor dem Haus standen unauffällige Herren. Die klopften mutig um 4 Uhr früh an die Wohnungstür. Auf die Frage „Wer dort?“ riefen sie: „Freund Kammin!“. Sie fanden Dräger im Bett liegend. Während er sich anzog, durchsuchten sie sein Zimmer. Ein geladener sechsläufiger Revolver lag hinter einem Spiegel. Und jede Menge „Propagandamaterial“. Zeitgleich wurde die Wohnung von Schlosser Adolf Schewe in der Frankfurter Allee 183 durchsucht und viele anarchistische Schriften beschlagnahmt. 50 Personen wurden verhaftet und für Tage in Untersuchungshaft genommen. Wir schreiben den 16. August 1894. Diese Aktion der politischen Polizei (Vorläufer des heutigen Verfassungsschutzes) war ein schwerer Schlag gegen die Berliner Anarchisten. Die Elisabethstraße gibt es nicht mehr, sie war nur einige Gehminuten von der Lange Straße entfernt.
Kamerun-Laube
Oft ging Adolf Schewe „Zum Amboss“ in der Breslauer Straße (heute: Am Ostbahnhof). Dies war das Vereinslokal der „Metallarbeiter des Ostens“, einer syndikalistischen Gewerkschaft. In Abgrenzung zu seinen sozialdemokratischen Kollegen, den „Zentralisten“, sah sich Schewe als „Lokalist“. In deren Broschüre „Gerechtigkeit in der Anarchie“ las er: „Wahre Revolutionäre dürfen sich vor Worten nicht fürchten.“ Schewe begegnete Wilhelm Werner. Der druckte das Blatt „Der Sozialist“. „Freiheit von der Religion“ wurde hier gefordert und es hieß, dass Arbeiter „das Recht hätten, sich selbst einen Feiertag zu bestimmen“. Auch vom Ideal der Herrschaftslosigkeit war die Rede, „der Einzelne soll sein eigener Herr sein“ und es hieß, dass „die Waffengewalt der letzte Rettungsanker des Staates ist, auf den sich die herrschenden Klassen stützen können.“ Obwohl Tyrannenmord nicht zu ihren Zielen gehörte, wurde den „Lokalisten“ zwischen 1844 und 1883 zugeschrieben, siebenmal auf Könige geschossen und am 28. September 1883 sogar versucht zu haben, den Kaiser per Bombe ins Jenseits zu schicken. Unbeeindruckt von stiller Bewachung gehörten seit 1892 der Schlesische Bahnhof (heute Ostbahnhof) und die „Kamerun-Laube“, in einer Laubenstadt vor dem Landsberger Tor (ehemaliges Schlachthofgelände) zu den Treffpunkten der Berliner Anarchisten. Letztere war an einem gehissten roten Unterrock zu erkennen und damit Ziel von Polizeiaktionen. „Freund Kammin!“ war ein Codewort derer aus der Kamerun-Laube. Ein Theodor Machner wurde als Spitzel angeworben, doch ging dieser an die Öffentlichkeit und behauptete, dass Zeitungen wie „Die Rache“, oder „Der Einbrecher“ die Anarchisten im Auftrag der Polizei zu wilden Taten anstacheln sollten. Adolf Schewe fiel darauf hinein. Mit Einbruchswerkzeug und Pistole ging er als „Expropriateur“ (deutsch Enteigner) auf Einbrechertouren, um den Reichen zu nehmen, was den Armen gehörte. Dafür kam er 12 Jahre ins Zuchthaus.
Viele Bewegte
Am 10. Oktober 1913 traf man sich in „Noaks Vereinshaus“ in der Lange Straße 65. Militärangehörige hatten hier keinen Zutritt. 25 Personen, darunter drei Frauen, erschienen zu einem Vortrag über das Thema: „Anarchismus und Sozialdemokratie“. Etwa 160 Personen umfasste der Sympathisantenkreis dieser Gruppe. Die politische Polizei sammelte deren Handschriftproben. Sie legte genaue Bewegungs- und Personalprofile an, stenografierte Reden und Diskussionen mit und fotografierte. Nach Einschätzung vom 21. Januar 1913 waren „die Sitzungen der anarchistischen Vereinigung immer recht gut besucht“, nur: „die vertrauliche Kontrolle kann ebenso wenig wie die durch geheime Überwachung irgendwelche vor Gericht verwertbaren Resultate ergeben“. Im „Restaurant Kluge“, Lange Straße 53, hielt Genosse Erich Goschke am 9. Dezember 1913 einen Vortrag „über die moderne Schule“. Max Wuche-Fischer aus der Frankfurter Allee 91 war Leiter der „Anarchistischen Gruppe Jugend“. Unbeobachtet verlief die Gründung des „Anarchistischen Arbeiter-Jugend-Bildungsvereins“ in der Kopernikusstraße 19, und des „Anarchistischen Bezirksvereins Osten“, in der Boxhagener Straße 12. Auch Fritz Kniestedt war ein beliebter Redner. Er lud in den „Andreasgarten“, in die Andreasstraße 26 ein, wo er vom „Freiheitlichen Kommunismus im Urwald von Süd-Amerika“ sprach und am 18. Januar 1914 über „Erlebnisse in Strafanstalten“.
Heimat Lange Straße
Ein anderer Bewohner der Lange Straße konnte ebenfalls über Gefängnisse berichten. Er war illegal in Berlin, mit 57 Jahren ergraut, und froh, im düsteren Korridor einer Wohnung im dritten Stockwerk der Lange Straße 22 einen Schlafplatz gefunden zu haben. Er hatte eine Idee, die er am Abend des 15. Oktober 1906 umzusetzen begann. Bei Trödlern in der Dragonerstraße kaufte er Teile einer Hauptmannsuniform, die nun in einem Pappkarton unter seinem Bett lagerten und ihm zu Reichtum verhalfen, wenngleich nur für zehn Tage. Am Morgen des 16. Oktober verließ Wilhelm Voigt das Haus und kam mit 3557,45 Mark (heute 22.000 €) in den Taschen zurück. Er fühlte sich wie neugeboren und schenkte den Kindern im Treppenflur Bonbons. Als „Hauptmann von Köpenick“ ging er in die Geschichte ein. Viele Anarchisten, aber auch viele ihrer politischen Gegner wurden zu Opfern des 1. Weltkrieges.