von Anke Wagner (Text) und Silvio Weiß (Fotos).
Vermutlich ist es eine traurige Geschichte. Das Haus zerbröckelt, das Scherengitter an der Eingangstür aber ist massiv und stabil. Einst galt es hier Werte zu schützen. „Wegen Krankheit vorübergehend geschlossen“ steht auf einem Zettel an der Tür, sorgfältig, aber etwas zittrig geschrieben. Von weitem sieht es aus, als sei Frau Richter nur mal eben ein paar Tage zuhause, um dann wieder, wie seit 85 Jahren, ganz für die Kundinnen und Kunden da zu sein.
Das sonst so geschwätzige Internet weiß nicht viel vom Bekleidungsgeschäft Richter in der Petersburger Straße 23. Waltraud Richter ist Inhaberin des Ladens, an der Tür kürzt sie ab mit W. Dies bezeugt der Eintrag in einem Online-Branchenbuch, aktualisiert im Juli 2015. Allerdings wird das Geschäft Ende März 2014 im Rahmen einer Besichtigungstour leerstehender Geschäftshäuser im Petersburger Kiez erwähnt: „*DEMNÄCHST* [nur von außen einsehbar] ca. 65 m² – Bekleidungshaus Richter, gegründet 1933 – Geschäftsaufgabe, Räumung dauert noch ca. 3 Monate …“
An der Markise steht dagegen 1927 als Gründungsjahr und „Gegründet 2.2.1927“ ist auf dem gerahmten Bild im Herren-Schaufenster zu lesen, auf dem sich Frau Richter zum 85-jährigen Geschäftsjubiläum bei ihrer „werten Kundschaft für die erwiesene Treue“ bedankt. Aber sind nicht die besseren Kunden von Bekleidungsgeschäften die Frauen? Die Nase am Schaufenster plattgedrückt frage ich mich das, weil ich mir vorstelle, dass hier ältere Frauen gern öfter vorbeigekommen sind, während sie ihre Ehemänner bestimmt nur einmal im Jahr davon überzeugen konnten, dass eine neue Hose oder ein Pullover fällig ist. Vielleicht steht der Dank in der Herrenecke, weil (wenn man schon so in Klischees denkt wie ich gerade) die Herren die fortwährende Erneuerung der Gardarobe ihrer besseren Hälften meist bezahlten.
HZ Bekleidungshaus ist in geschwungenen Buchstaben über den Markisen zu lesen, HZ gefasst wie ein Wappen. Für diese zwei Buchstaben finde ich keine Erklärung, im Namen Richter kommen sie jedenfalls nicht vor.
In den drei Schaufenstern, eines für Herren-, zwei für Damenmode, liegen tote Fliegen und dicke Staubflusen, sind die ausgestellten Hosen, Pullover und Röcke ausgeblichen. Nur der Blumenstrauß zwischen den kopflosen Kleiderständern scheint frisch, ist aber nicht echt. Auch sind die Scheiben schmutzig und beschmiert, das hätte Frau Richter sicherlich nicht geduldet.
Ein Fotoalbum steht aufgeklappt auf der Ladentheke: Bilder aus dem Laden aus einer schwer bestimmbaren Zeit. Frau Richter hat vermutlich schon immer zeitlose Mode verkauft. Auf einem Bild stützt ein älterer Herr lässig seinen Arm auf einen vollen Kleiderständer und schaut selbstbewusst am Fotografen vorbei, als überlege er gerade, welche Hemden seinem Kunden gut stehen würden. Vielleicht Herr Richter? Ansonsten sieht es aus, als wäre Frau Richter nicht fertig geworden mit der feierlichen Ausschmückung für das Jubiläumsjahr. Oder mit dem Ausräumen nach der Geschäftsaufgabe, die ja im gleichen Jahr gewesen sein muss. Jedenfalls ist in einem der Damenschaufenster der Friedrichshainer Geschichtskalender von 2012 ausgestellt. Kartons lehnen in der Ecke, Plastiktüten im ansonsten leeren Regal dahinter, ein leerer Krawattenständer ragt aus dem Durcheinander auf der Ladentheke. Eine Schaufensterpuppe ist obenrum noch nicht fertig angezogen.
Die Bilder sind vom April 2016. Vier Jahre hat sich hier nichts verändert. Inzwischen wurde das Haus renoviert und ist nicht wiederzuerkennen. Von Frau Richter keine Spur mehr.