
Der Fotograf Jochen Haupt.
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Darüber, wie viele Fotografien wir uns täglich anschauen, gibt es zweifellos Statistiken. Einen Augenblick brauchen wir, um die Information eines Bildes zur Kenntnis zu nehmen und schon schauen wir weiter. Nur auf den allerwenigsten Bildern ruht der Blick länger, doch selbst von diesen schauen wir nur einen verschwindend kleinen Teil richtig lange an.
Wir besuchen Jochen Haupt, einen Mann, der in seinem langen Leben unzählige Bilder fotografiert hat, die man lange anschaut. Seine Frau führt uns ins Wohnzimmer eines Altbaus in der Thaerstraße, das mit seiner Einrichtung gemütlich erscheint: dunkles Holzmobiliar, Teppich, Gardinen, zahlreiche Bilder und vor allem Holzarbeiten an den Wänden. „Staubsaugen und -wischen werden heruntergefahren“, erklärt sie. „Solange mein Mann noch lebt, ist meine Hauptaufgabe, sein Lebenswerk digital zu archivieren, zu bearbeiten und daraus druckreife Bücher zusammenzustellen. Außerdem muss das große Grundstück in Herzsprung bei Wittstock das teils aus Wald, teils aus Wiese besteht, auch in Ordnung gehalten werden.“

Brennholz für Kartoffelschalen: Eine Kindheit im Friedrichshain
Aufgewachsen ist der gebürtige Friedrichshainer in einem zweiten Hinterhof in der Sonntagstraße in der Nähe des Bahnhofs Ostkreuz. „In der Neuen Bahnhofstraße gab es einen Kuhstall auf dem Hof. Die Leute von dort kamen immer mit einem Fuhrwerk vorbei und riefen: ‚Brennholz für Kartoffelschalen!‘ Für einen Korb Küchenabfälle, die sie an die Tiere verfütterten, erhielt man Anmachholz in den Korb.“
Amüsiert erinnert sich Jochen Haupt auch an einen Bananenverkäufer, der freitags, wenn die Arbeiter mit ihrem Wochenlohn in der Tasche vom Bahnhof kamen, mit einem Pferdefuhrwerk vorfuhr. Der Verkäufer nahm ein Bündel in die Hand, rief laut den Preis, löste eine Banane ab, und tat großspurig die gerade abgerissene Banane dazu: „Und diese gibt’s kostenlos!“
Kinderspielplätze gab es damals nicht in Friedrichshain, zumindest nicht dort, wo Jochen Haupt aufwuchs. Stattdessen erinnert er sich an Spiele wie Murmeln, Autorennen auf dem Rinnstein oder an Treibeball, ein Fangespiel, bei dem es gilt, die gegnerische Mannschaft über die nächste Kreuzung zu treiben. „Eine ganz schön sportliche Ertüchtigung“, meint Jochen Haupt, der übrigens bis auf ein kurzes Intermezzo in Prenzlauer Berg immer seinem Bezirk treu geblieben ist.
Sein Vater war Kommunist und wurde 1933 einmal abgeholt, doch konnte ihm nichts nachgewiesen werden. Als Heizungsmonteur war er zur Tarnung oft auf Montage, so auch einmal in Carinhall, einer mondänen Villa in der Schorfheide, wo sich Luftwaffenchef Hermann Göring sein Domizil eingerichtet hatte. „Mein Vater erzählte einmal, dass er beim Schweißen mit der Schutzbrille den Göring hinter sich wahrnahm. Er bemerkte ihn am Geruch, so hatte der sich parfümiert.“

Mit Glück den Krieg überlebt
Als der Krieg ausbrach, änderte sich zunächst kaum etwas für den Jungen. Wie seine Freunde sammelte auch er morgens nach Angriffen auf der Straße Granatsplitter, um sich in der Schule zu beweisen und zu tauschen. Ernst wurde es dagegen 1943, als er zu seinem 15. Geburtstag die Einberufung als Luftwaffenhelfer bekam. Stationiert war er zunächst in Hohenschönhausen und Rüdersdorf. Im Westerwald, wo er als Telefonist zu einem Funkerlehrgang war, hörte er mit einem Tornister-Funkgerät BBC-London, um zu erfahren, was es mit den Geräuschen hinterm Horizont für eine Bewandtnis hatte. „Ich habe mich dann beim Lehrgang wie ein Schwejk benommen, mich eifrig gemeldet und immer mit Absicht falsche Antworten gegeben, bis sie mich zurück nach Friedrichshagen zu meinem Restkommando schickten.“ –„Das war sein Glück“, ergänzt Frau Haupt. Der Lehrgang wurde kurz darauf an der Front verheizt, wie später ein Freund berichtete. Die letzten Kriegstage verbrachte Jochen Haupt als Deserteur versteckt im heimischen Keller. Die selbst ermächtigte Heimreise war ein gefährliches Abenteuer, immer auf der Hut vor den ‚Kettenhunden‘. So nannte man die Militärposten, die alle Männer in den Volkssturm pressten, derer sie habhaft wurden. Ein ‚Goldfasan‘ (so nannten Berliner hohe Nazi-Bonzen), der im Haus wohnte und uns nicht leiden konnte, ahnte etwas, und schob ihnen seine Dienstpistole unter, damit sie von den Russen Ärger bekämen. „Doch meine Mutter fand sie zum Glück und ließ sie verschwinden.“
Selbst gebaute Radios für Roggen: Harte Nachkriegszeit
Statt seinen Schulabschluss nachzuholen, bastelte Jochen Haupt in Heimarbeit Radiogeräte in Zigarrenkisten zusammen, wobei ihm seine in den Lehrgängen als Funker erworbenen Kenntnisse zugute kamen. Um die dafür notwendigen Bauteile aus übrig gebliebenen Wehrmachtsbeständen zusammen zu bekommen, zog er durch die ganze Stadt.
Im zerstörten Nachkriegsberlin ging es ums bloße Überleben: „Für so einen kleinen Apparat bekam ich bei Bauern einen Viertelzentner Roggen. Daraus konnte meine Mutter Grütze kochen.“ Jochen Haupt entwickelte auch ein Verfahren, mit dem man verbrauchte Radioröhren regenerieren konnte. Lebhaft erzählt er, wie er sie wieder aufbereitete, um sie einem Laden anzubieten. Ihm war klar, dass sie nach dem Verkauf wahrscheinlich nur ein paar Stunden hielten. „Solche Geschäfte waren typisch für diese Zeit.“
Schließlich holte er sein Abitur doch noch nach. Der Vater war als vermisst gemeldet. Jochen Haupt erhielt von einem Kameraden die verschlüsselte Nachricht, dass der Vater im Sommer 1943 im Kursker Bogen übergelaufen sei. Aber er blieb verschollen.
Zu wenig Parteidisziplin für die Funktionärskarriere
Ein alter Genosse seines Vaters bestimmte: „Du studierst, und zwar Ökonomie! Wir müssen die zukünftigen Schaltstellen besetzen.“ Doch obwohl es sich als Diplomökonom hoffnungsvoll anließ, wurde es mit der großen Karriere nichts. Am Gesellschaftswissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent und hielt Vorlesungen über Politische Ökonomie des Sozialismus. Weil er dabei seine Forschungsergebnisse zur Dissertationsarbeit verwendete, die im Widerspruch zum Lehrprogramm standen, wurde er 1958 vor die Parteileitung geladen, um sich zu rechtfertigen. Fachlich konnten sie ihm nichts, denn er bewies die Richtigkeit seines Standpunkts. Dennoch hatte er gegen die Stalindoktrin verstoßen. „Wenn wir Fehler machen, machen wir sie gemeinsam!“, so lautete der zynische Kommentar, mit dem Jochen Haupt zur Bewährung in den VEB Starkstromanlagenbau versetzt wurde. Noch heute schüttelt er den Kopf über eine solche „Parteidisziplin“ der Funktionäre.
Weil man offenbar nicht auf seine Kenntnisse verzichten wollte, wurde er bald wieder mit qualifizierten Aufgaben betraut. Anfang der 1970er Jahre war er sogar Mitglied der Arbeitsgruppe „Strukturpolitik“ unter Wirtschaftsminister Günter Mittag. Als sie aufgelöst wurde, beschloss Jochen Haupt, sein Hobby zum Beruf zu machen.

Die zweite Karriere als Fotograf
„Schon mein Vater hat gern fotografiert. Er besaß eine Super-Iconta, mit der ich als Flak-Helfer Fotos mit Selbstauslöser schoss. Als Student kaufte ich mir eine Baldina-Kleinbild-Klappkamera und schließlich erstand ich meine erste Praktica, auf die ich mächtig stolz war.“
Was er fotografiert hat? „Fast alles: Natur, Architektur, Porträts und Schnappschüsse. Auch den Bau der Stalinallee habe ich dokumentiert, den letzten Altbau zwischen den Neubauten fotografiert.“ Bis zur Rente arbeitete er als freischaffender Bildjournalist. Das war zunächst gar nicht so einfach. „Ich musste für die Zulassung nachweisen, dass ich Aufträge bekomme. So habe ich bei den Räten der Stadtbezirke und beim Magistrat vorgesprochen und nachgefragt, ob sie was fotografiert haben wollen. Damit spezialisierte ich mich auf Architekturfotografie und arbeitete unter anderem auch für den Denkmalschutz.“

Eine wichtige Begleiterin
Es gibt Menschen, die können viel erzählen, dank eines hohen Alters und anhaltender Aktivität. Wie oft bei besonderen Menschen, agiert auch hier eine lebendige, selbstbewusste Partnerin neben dem betagten Fotografen. Eva-Maria Haupt wehrt ab: „Ich bin doch nur sein Bodyguard – oder wie man jetzt korrekt sagen müsste: seine Bodygardine!“
Während ihres Studiums der Technologie und des Maschinenbaus hatte sie den Fotografen kennen gelernt und seither begleitete sie ihn auf zahlreichen Reisen und Foto-Exkursionen. Wir stöbern durch alte Fotoalben, die uns „die Häupter“, wie sie auch genannt werden, zeigen. Eins davon wurde vom Ministerium Land und Forst in Auftrag gegeben. Jochen Haupt sollte die Umgestaltung der Rieselfelder vor den Toren der DDR-Hauptstadt dokumentieren. Ein anderes Album gab der Bürgermeister von Friedrichshain in Auftrag: 50 Bände mit repräsentativen Fotografien aus dem Bezirk. „Sämtliche Vergrößerungen entstanden in meiner Dunkelkammer“, erläutert Herr Haupt. „Der Auftrag lautete: komplette Alben.“
Unter den zahlreichen gedruckten Bildbänden mit Fotos von Jochen Haupt ist eins über die Schorfheide bemerkenswert. Herr Haupt berichtet: „Das war ja Staatsjagdgebiet, und da brauchten sie aus besonderem Anlass was zum Verschenken. Auftragnehmer war ADN-Zentralbild, die Bildstelle des offiziellen DDR-Nachrichtendienstes. Nachdem die Starfotografen ihre Bilder vorgelegt hatten, beklagte sich der Chef bei seiner Frau, die im Berliner Verlag arbeitete: ‚Die wissen zwar genau, wo im Bild die roten Fahnen zu sein haben, emotionale Naturfotos haben die aber nicht drauf.‘ Seine Frau kannte mich von Lichtbildvorträgen, die ich im Verlag veranstaltete und brachte mich ins Spiel. Später bekundete mir der Verlagschef aus Leipzig, meine Fotos hätten den Bildband gerettet.“
Jochen Haupt mit seiner Ehefrau, Archivarin, Reisegefährtin und „Bodygardine“ Eva-Maria Haupt. / Foto: Giovanni Lo Curto /
Keine Langeweile: Noch 10.000 Fotos zu archivieren
Zu den Aufgaben von Eva-Maria Haupt gehört das Archivieren und Digitalisieren der Farbfilme im Kleinbildformat 6 x 6 und 6 x 9 am Computer aus Beständen von über 10.000 Fotos. „Dabei ist das nicht alles“, erzählt Jochen Haupt. „Wir haben noch alte Familienfotos, zum Bespiel von meinem Großvater aus dem Ersten Weltkrieg.“ Angesichts dieser Aufgabe kann man nur hoffen, dass die Arbeitskraft der Häupter noch lange anhält. Vor einem Jahr stürzte Jochen Haupt von einer Leiter und fing sich dann im Krankenhaus auch noch eine Lungenentzündung ein. Die führte zu langwierigen Komplikationen. Aber Frau Haupt ist zuversichtlich: „Als mein Mann neulich beim Fotografieren im Garten auf dem Bauch lag, wusste ich, es geht wieder aufwärts.“ Und diese Zuversicht kann man nur mit den besten Wünschen bestärken.