Spuren der Milchwirtschaft in der Gubener Straße 37. Futtertrog. Foto Detlef Krenz

Mit Sommers Kuh auf Du

Spuren der Milchwirtschaft in der Gubener Straße 37. Foto Detlef Krenz
Spuren der Milchwirtschaft in der Gubener Straße 37. Foto Detlef Krenz

Die Friedrichshainer Hinterhofställe

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Wahre Wunderdinge wurden der Milch im Berlin des 19. Jahrhunderts zugeschrieben. Heilendes sollte sie gegen Lungenleiden, Gicht, Hautkrankheiten oder gegen Erkrankungen im Verdauungstrakt bewirken. Milch kam Mitte der 1860er Jahre per Eisenbahn preiswert in die Stadt. Zwischenhändler, die ihre Ware in großer Menge im Umland kauften, brachten sie als „Bahnmilch“ zum Kunden. Jedoch war diese oft nicht mehr frisch. Ehemalige Melker sahen hier ihre Chance und schlossen mit Spreewaldbauern Verträge ab. Milchvieh, das für die eigenen Höfe zu alt, aber noch milchträchtig war, sollte künftig in Hinterhofställen stehen.

Spuren der Milchwirtschaft in der Gubener Straße 37. Kuhpfosten. Foto Detlef Krenz
Spuren der Milchwirtschaft in der Gubener Straße 37. Ein Kuhpfosten.

Landluft im Wohnzimmer

Mit fünf „Kuhhaltungen“ ging man 1864 an den Start. 1893 muhten 5.017 Kühe im Großraum Berlin. Bis zu 24 Tiere drängten sich in muffig dunklen Verschlägen. Dort litten sie nicht nur unter Bewegungsmangel; Staub vom trockenen Heu war in der Luft. Die Rinder erkrankten an Tuberkulose oder Staubinfektionen.
Nachdem Bakterien als Urheber von Scharlach, Typhus und Cholera entdeckt wurden, war der Erhitzungszwang für Milch vorgeschrieben. Erheblich schwankten die Preise für den Liter Milch zwischen den 397 Ställen der Stadt. Deshalb kam es 1900 zur Gründung der „Zentrale für Milchverwertung“. Die folgenden Einheitspreise lagen zwischen 11 bis 13,5 Pfennig je Liter. Diese führten zum stillen Aufstand von Seiten der Hausfrauen wie nichtorganisierten Konkurrenten. Gegenseitige Vorwürfe, „blaue“ – mit Wasser vermischte Milch zu liefern, machten die Runde. 1905 endete dieser „Milchkrieg“ mit einem Festpreis von 12 Pfennig pro Liter. 1927 kamen circa 17% des Milchbedarfs aus Berliner Quellen und 1928 lebten 25.263 Rinder in der Stadt.
Seit 1926 war Max Sommer in der Gubener Straße 37. 1949 sagte ein Bezirksverordneter von ihm, „er wäre einer der wenigen, der für Kranke und Kindergärten seine Milch kostenlos abgab“.

Spuren der Milchwirtschaft in der Gubener Straße 37. Futtertrog. Foto Detlef Krenz
Vorschrift: 2x im Jahr weißer Kalk auf die Wände. Überreste einer Futterrinne in der Gubener Straße.

Gesundes aus der Remise

Seit dem September 1945 trugen 54 Friedrichshainer Abmelkereien ihren Anteil von 28.000 Litern Milch, die täglich an Berliner Kinder verteilt wurden. Mit 50 Tieren war „Wehking“ am Weidenweg 50 der größte Betrieb. In der Dirschauer Straße 13 und 15, gaben jeweils 22 Kühe Milch. Max Sommer hatte nur zehn Kühe. Um diese zu versorgen, durfte er bis zum November 1949 seinen „Übersoll“ Verkaufen oder zum Tauschen verwenden. Im Gegensatz zu Milchläden, die sonntags geschlossen blieben, konnten die Betriebe täglich verkaufen. Sommer bekam für den Liter „Markenmilch“ 50 Pfennig Plus und durfte fünf Liter als „Markenfreie“ Milch für 2 Mark pro Liter abgeben. „Schwarz“ kostete der Liter im Juni 1947 20  Mark. Der „Milchsoll“ lag bei fünf Litern pro Kuh und Tag. Der  Milchfettgehalt musste bei 2,5 Prozent liegen und 1949 bei 3,49 %. Ab April 1949 gaben Friedrichshainer Abmelkbetriebe einen Übersoll von 8.000 Litern zur regelmäßigen Versorgung von TBC-Kranken an das Gesundheitsamt ab. Das Plansoll für die Abmelkbetriebe im „demokratischen Sektor“ lag bis Ende 1947 bei 1.300 Litern täglich, um dann zur Butter- und Käseherstellung auf 2.000 Liter angehoben zu werden.
Wegen der Milchmengen und monatlicher Seuchenkontrollen sowie jährlicher TBC-Prüfungen kamen „Milchprüfer“ in die Ställe. Sie achteten auf die Milchverkaufsräume, die keine direkte Verbindung zum Stall haben durften und in denen Haustiere verboten waren. Manche Bedingungen waren für Sommer nicht einzuhalten. Er hatte kein Stroh für den Stallboden, er streute dafür Sand. Zwischen den Jahren 1946 und 1949 verlor er 10 Tiere wegen Abmagerung und Tuberkulose. Nur wenig Heu ging als „Rauhfutter“ zum Jungvieh, ergänzt durch „Kraftfutter“ aus Kartoffelschalen und Gemüseresten. 6 Zentner davon steckten in circa 125 Müllkästen. Tausch ersetzte Fehlendes: Für einen Eimer Kartoffelschalen gab Sommer 1/8 Liter Milch.
Weil er nebenher Trümmerschutt abfuhr, tauschte man bei ihm Brennholz gegen Kartoffelschalen. Er kam an Abbruchholz, das er in handliche Gebinde verpackte. Diese wanderten in Küchenherde oder Badeöfen. Die im Mai 1949 gegründete „Nationale Front“ kümmerte sich um viele soziale Aufgaben, so auch um die Sammlung von Speiseabfällen. Schrauben und Nägel in den Futtertonnen führten oft zum Tod der Tiere. Hausversammlungen, in denen Lehrfilme gezeigt wurden, sollten dieses qualvolle Ende verhindern helfen.

Spuren der Milchwirtschaft in der Gubener Straße 37. Futterrinne. Foto Detlef Krenz
Spuren der Milchwirtschaft in der Gubener Straße.

Böser Abschied

Um offiziell seinen Fuhrbetrieb aufnehmen zu können, beantragte Sommer am 4. September 1949 eine Gewerbe­erlaubnis. Mit der Begründung, „es handele sich um eine Koppelung artfremder Betriebe“, wurde sie abgelehnt. Fast alle Abmelker waren bis dahin auch Fuhrunternehmer, weiter wurde festgestellt: „Ein volkswirtschaftliches Interesse besteht nicht!“ Nach einer Beschwerde beim Wirtschaftsamt erhielt Sommer den Gewerbeschein. Am 5. Dezember 1950 unterstellte ihm die Preiskontrolle der Volkpolizei, er hätte aus dem Schwarzverkauf „rückständiger“ Rohmilch, „einen Gewinn von 17.400 Mark erzielt“. Unter der Begründung: „er wäre mit dem Milchsoll im Rückstand, weil er täglich Milch zu Schwarzmarktpreisen verkaufe“, verlor Sommer am 20. Januar 1951 seine Gewerbeerlaubnis. Zum Hintergrund: Am 1. November 1949 wurden die Sollmengen auf 7 Liter pro Tier erhöht, was für Sommer nicht zu leisten war. Über eine Anhörung am 10. September 1951 verfiel der Vorwurf. Am 28. November 1951 stellte die VBB Volkseigene Güter fest, Sommers Betrieb „wäre unrentabel“. „Im öffentlichen Interesse“ übernahm am 18. Dezember 1951 ein Treuhänder die Geschäfte. Sommers Proteste und Eingaben verpufften wirkungslos. Der VEB Tiefbau schrieb am 19. März 1956 ans Wirtschaftsamt: „Der Inhaber Max Sommer ist illegal verzogen“, weiter „wären vorhandene Steuerrückstände mit seinem gepfändeten Bankguthaben verrechnet“ und „der Betrieb aufgelöst“. Max Sommer war kein Einzelfall. Fast alle Abmelkbetriebe im Bezirk wurden in den 1950er Jahren ähnlich „aufgelöst“. Die letzten Berliner Abmelker schlossen zwischen 1975 und 1982 ihre Ställe.

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