Ein Blick hinter die Kulissen der Lichtspielhäuser.
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Am 2. November 1905 erbat der Fotograf Stanislaus Kucharski um die Erlaubnis im Eckhaus Große Frankfurter Straße 27 ein Kino eröffnen zu dürfen. Sein „Thalia“ wurde damit zum ersten in Friedrichshain. Am 29. Juni 1906 eröffnete Fritz Gilies das „Welt-Biograph-Theater“ in der Warschauer Straße 39. Kinobetreiber waren damals oft Filmverleiher- und Produzenten in Personalunion. Mit zweihundert Plätzen war das „WBT“ an jedem Wochenende ausverkauft.
Der Beamte von der Zensurbehörde fand jedoch keinen Einlass. Dafür musste Gilies zweihundertfünfzig Mark Strafe zahlen. Sechs Beamte der Theaterpolizei wachten über alle Kinos und Filminhalte. Gnade vor diesen strengen Augen fand 1913 Hans Junkermann als Detektiv in „Wo ist Coletti?“, der sich im Hotel Adlon als vornehme Dame tarnte. Bis 1914 stieg die Zahl der Kinos auf über ein Dutzend mit Größen bis zu dreihundert Sitzplätzen. Eine Welle von Kinoeröffnungen hob nach 1918 an. In den unsicheren Inflationsjahren galten Kinos als Geldanlage. Zeitweise wurden über 30 Kinos gezählt, etliche mit vier- bis übersechshundert Sitzplätzen.
Kinodramen in mehreren Akten
Filme wurden seinerzeit in mehreren „Akten“ gezeigt. So auch im „Merkur-Palast“ in der Palisadenstraße 26, mit 653 Sitzplätzen in einem ehemaligen Gebetssaal der Heilsarmee. 1923 stand hier nur ein Filmprojektor. Behende wechselte Filmvorführer Erich Ber eines Abends die vierte Spule von „Ausgerechnet Wolkenkratzer“. Der Violinist überbrückte mit seinem Kollegen am Klavier diese Pause. Erich Ber wollte den Musikern ein Zeichen geben und ging in den Zuschauerraum. Plötzlich sah er einen Feuerschein im Vorführraum. Die Projektionslampe brannte wegen einer Stromnetz-Überspannung. Verzweifelt warf der Filmvorführer eine Pferdedecke über den Projektor. Leider nicht schnell genug: Bis die Feuerwehr eintraf, waren 240 m von jenem Filmteil, in dem Harold Lloyd am Zeiger einer riesigen Uhr hängt, geschmolzen.
Filme dieser Zeit wurden mit 16 oder 22 Bildern pro Sekunde gedreht und vorgeführt. Um Stimmungen oder Aussagen zu unterstützen, waren fast alle Filme eingefärbt. Zur opulenten Musik- und Effektunterstützung setzte man Filmorgeln oder Filmorchester ein. Auf Podien vor den Kinoleinwänden traten in den Pausen oder vor den Filmen Schauspieler auf. Gegeben wurden kleine Sketche oder volkstümliche Stücke. „Venus im Arrest“ oder „Monsieur Herkules“ waren beim Publikum beliebt. Dafür mussten die Kinobetreiber Extraspielerlaubnisse einholen.
Gern gesehen war die Detektivserie „Harry Hill“, wo im Vorprogramm zu „Mit 300 PS-Vollgas“ (1919), fünf leicht bekleidete Tänzerinnen auftraten. So etwas konnten sich jedoch nur große Häuser leisten, wie die „Concordia-Lichtspiele“ in der Andreasstraße 64 oder der „Luna-Palast“ in der Großen Frankfurter Straße 121. Hier startete am 6. Juli 1932 die „Lucia Rollehs Nacktrevue“ mit 21 Bildern und erntete Ärger wegen freizügiger Werbeplakate.
Frierende Musiker und bröckelnde Kulissen
„Da das Publikum viel zu schauen und leicht in die Ohren gehende Musik zu hören bekommt“, war im Reichsfilmblatt vom 4. Februar 1928 zu lesen, wären „Lichtspielhäuser die eigentlichen Volkstheater“. Theaterdirektoren klagten wegen dieser Konkurrenz: „Unsere Theater leiden schon genug durch Rundfunk, Sport und Weekend und der Tonfilm ist im Anmarsch“. Zu leiden hatte aber auch Paul Brandt, Violinist im Filmorchester der „Concordia-Lichtspiele“. Am 28. November 1928 schrieb er an die Gesundheitspolizei, dass der Orchestergraben erfüllt sei von Urin- und Pestilenzgestank, der von verwesenden Mäusen herrührte. Ab und an würden die Räume mit Desinfektionsmitteln gereinigt, aber so sehr, dass alle Musiker Kopfschmerzen bekämen. Kein Ofen wäre vorhanden. Wer sich krank melde, bekäme sofort die Kündigung. Er und seine 15 Kollegen müssten in Decken und Mäntel gehüllt spielen. Essen und Trinken am Arbeitsplatz war untersagt, einen Pausenraum für die Musiker gab es nicht. Sein Kollege Emil Hopson aus der Tilsiter Straße 2 wurde wegen Essens im Orchestergraben entlassen.
Über 14 Tage war das Orchester gezwungen, bei ganz dunkelrotem Licht zu spielen, was alle aufbrachte. Einige Musiker begannen, den roten Lack von den Birnen zu kratzen. Der Dirigent drohte mit Anzeigen wegen Sachbeschädigung. Als die Musiker wegen der roten Lampen zu streiken drohten, wurden die Lampen vom Kapellmeister in grüne Farbe getaucht. Damit gab es noch weniger Licht.
Hin und wieder brannten elektrische Leitungen. Während einer akrobatischen Vorführung im Vorprogramm krachte eine 25 Kilogramm schwere Hantel in den Orchestergraben. Sie traf einen Musiker schwer am Kopf und zerbrach seine Geige samt Bogen. Manchmal fiel ein Mauerstück von der Bühnenverkleidung auf die Musiker. Der Dirigent sagte dazu: „Auf der Straße können Sie auch verunglücken.“ Von der Polizei war nach den Worten von Paul Brandt nicht viel zu erwarten, denn die Beamten bekämen Freikarten für alle Vorstellungen.
Schauriges Ende
Vor allem für jüdische Schauspieler und Unternehmer war die Kino- und Filmbranche der frühen Jahre eine Start-Up Szene. Mit dem Machtantritt der NSDAP fand diese lebendige Kultur ihr Ende.
Die 1916 in der Landsberger Allee 43 eröffneten „Centrum-Lichtspiele“ gehörten ab 1929 Max Lipschitz. 1934 wurde er von SA-Leuten aus dem Kino gezerrt und bespuckt. 1936 ging er in die Niederlande. 1943 nach Theresienstadt deportiert starb er 1944 in Auschwitz.
Der „Concordia Palast“ gehörte wie die „Lichtspiele am Märchenbrunnen“ dem Kinounternehmer Leopold Storch. Er emigrierte nach Budapest.
Der „Merkur-Filmpalast“ in der Palisadenstrasse 26 und die „Flora-Lichtspiele“ in der Landsberger Allee 40/41 waren Teil der vom Verleger Abraham Anton Lewin gegründeten „Filmschaugesellschaft“. Diese wurde 1938 „arisiert“.
Bei Kriegsende waren die meisten Kinos zerstört. Viele wurden in den 1950er Jahren geschlossen. Aber nicht alle: Die „Tilsiter-Lichtspiele“ in der Richard-Sorge Straße 25 a haben alle Veränderungen von 1908 bis heute überstanden. Das 1909 als „Lichtspiele des Ostens“ gegründete Kino an der Ecke Boxhagener Straße / Niederbarnimstraße heißt heute „Intimes“. Wegen seiner ursprünglich 151 Plätze auf engstem Raum hatte es schon früher den Beinamen „Intimes Theater“.