Jupiter Dolichenus – ein rätselhafter Fund.
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Mit der Industrialisierung begann die Besiedlung des Gebiets des heutigen Bezirks Friedrichshain, so hört man es immer wieder. Andere Quellen verweisen zurück auf die mittelalterliche und slawische Zeit. Und doch gibt es auch ein Zeugnis menschlicher Siedlung aus weit früherer Zeit, das so unglaublich ist, dass niemand bisher gewagt hat, sich auf eindeutige Aussagen festzulegen.
Eine archäologische Sensation
Die Rede ist vom Fund einer Kleinplastik, die im Mai 1826 bei Arbeiten in einer Lehmgrube nahe des Dorfes Lichtenberg gemacht wurde. Das mit detailliertem Faktenreichtum aufwartende wissenschaftliche Werk „Archäologische Funde und Fundstellen in Berlin“ von Rüdiger Schulz aus 1987 nennt als Fundort eine Lehmgrube am heutigen Schleidenplatz. Man mag es nicht glauben, die mit lockigem Haupthaar und wildem Vollbart versehene, mit einer Metallrüstung gewappnete und gerade einmal 14,5 Zentimeter hohe Bronzefigur stammt aus den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. Was für eine Sensation! Ein zweitausend Jahre alter Friedrichshainer, mehr als doppelt so alt wie die Stadt Berlin! Doch so einfach ist es nicht.
Rätsel um den Fund
Von den Wissenschaftlern wurde die Figur zunächst als Jupiter Imperator beschrieben. Später jedoch, nach Vergleichen mit anderen antiken Götterfiguren, setzte sich die Ansicht durch, dass es sich um Jupiter Dolichenus, einen Wettergott aus Stadt Doliche in der heutigen Südosttürkei handelt, der eine Doppelaxt und ein Blitzbündel trägt. Unsere Jupiterfigur hat diese aber inzwischen verloren. In den ersten drei christlichen Jahrhunderten verehrten Söldner von Garnisonen des späten Römischen Reiches den Jupiter Maximus Dolichenus. Eine frühe türkisch-berlinische Allianz? Nein, denn die Türken kamen erst später nach Doliche, und Berlin gab es damals noch gar nicht. Wie und wann die Kleinplastik ihren Weg in die märkische Einöde gefunden hat, darüber kann nur gemutmaßt werden. Wahrscheinlich gelangte sie über mehrere Etappen, zwischen denen Jahrhunderte liegen können, an den Fundort.
„Eine archäologische Vermutung“
So heißt der Untertitel der ersten wissenschaftlichen Beschreibung des Fundorts und der „mehreren Urnen von halbgebrannten Ton“ durch den Gelehrten Konrad Levezow:
„Sie standen drei oder vier Fuß tief unter der Oberfläche des Bodens in einem mit Steinen auf gewöhnliche Weise auf- und umsetzten Raume. Leider ist keins dieser Gefäße ganz zutage gefördert worden; alle zerfielen in Stücke, woran die Härte des trockenen Thonbodens, der nur mit der Hacke bewältigt werden konnte, wohl hauptsächlich Schuld gewesen seyn mag.“
Pinselchen, Spatelspitzen und Geduld waren vor knapp zweihundert Jahren auf den Baustellen ebenso unüblich wie präzise archäologische Dokumentationen der Bodenschichten des Fundorts. Das gelehrte 19. Jahrhundert wird wegen seiner Irrtümer immer wieder gern verlacht – oft zu Unrecht. Dessen Irrtümer waren nicht so schrecklich wie die des 20. Jahrhunderts.
Alles falsch?
Um einen offensichtlichen Irrtum, wenn auch keinen schrecklichen, handelt es sich bei der bis heute in der wissenschaftlichen Literatur als gültig angesehenen Bestimmung des Fundortes am Schleidenplatz. Wer nämlich den Text der ersten Beschreibung der Figur durch Levezow liest, wird feststellen, dass dies nicht stimmen kann. Hierin heißt es nämlich: „… bei dem Dorfe Lichtenberg, eine Viertlmeile von Berlin vor dem Frankfurter Thore gelegen … bei Anlage einer Ziegelei auf der Feldmark des dem Herren Grafen von Hardenberg gehörige Vorwerks Lichtenberg, nördlich vom Dorfe, am Wege, der in die Landstraße nach Berlin führt.“ Der Schleidenplatz liegt aber westlich des Dorfes Lichtenberg, nicht in dessen Norden. Die Lehmgruben nördlich des Dorfes lagen am heutigen Fennpfuhl. Dies veranlasst unseren Nachbarbezirk dazu, den Jupiter Dolichenus für sich zu reklamieren. Unter Berücksichtigung der historischen Quellen und mit einer gehörigen Portion Sportlichkeit überlassen wir also unseren Nachbarn gern ihren verdienten Ruhm.
Eine würdige Präsentation
Gegenwärtig wird der Kleinplastik eine Aufmerksamkeit zuteil wie wohl kaum einem anderen Artefakt aus dem märkischen Sandboden. Sie teilt sich mit der Nofretete und anderen weltberühmten Kunstwerken der Antike die Beletage des Neuen Museums auf der Museumsinsel, dort steht sie in der 4. Vitrine in Raum 2.04. Wer lieber seinen eigenen Jupiter Dolichenus haben möchte, für den gibt es einen Ausweg, der Puristen allerdings nur ein Schmunzeln abringen wird. Bei der Berliner Antikensammlung kann man für schlappe 300,- Euro einen originalgroßen Abguss der Figur erwerben. Ob als behüteter Staubfänger in der Glasvitrine oder superteurer Balkongartenzwerg, alles ist möglich und nur eine Frage des Geldbeutels. Vielleicht gibt es ja auch irgendwann einmal eine kostengünstige Plastikvariante für den kleinen Mann und die kleine Frau auf der Straße, Kunst ist schließlich für alle da. Damit ist zwar keines der Rätsel um den Jupiter Dolichenus gelöst, aber Spaß macht es trotzdem.