Vom Leben in der Turnhalle.
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Im Sommer 2015 taten sich einige Friedrichshainer zusammen, um die vielen, nach Berlin strömenden Flüchtlinge willkommen zu heißen und das offensichtliche Behördenchaos zu lindern. „Friedrichshain hilft“ begann Spenden zu sammeln und freiwillige Helfer für die Nachbarbezirke zu koordinieren. Die Hilfsbereitschaft war groß, Berge von Kleidung, Sanitärartikeln oder Spielzeug stapelten sich bald in Räumen, die das Hausprojekt in der Rigaer Straße 94 spontan zur Verfügung gestellt hatte. „Ich wusste aber gar nicht, dass es hier im Kiez auch Turnhallen gibt, die mit Geflüchteten belegt werden können“, sagt Matthias Strobel, der von Anfang an dabei war. Doch, gibt es, und sogar zwei: in der Gürtelstraße und der Otto-Ostrowski-Straße. Anfang November erfuhr die Initiative von den beiden Turnhallen. Das lief so ab: Freitags besichtigte die Feuerwehr, die Polizei, das THW und das LAGESO den Ort und entschieden über die Anzahl an Menschen, die dort untergebracht werden kann (140 in der Ostrowski-Straße, 250 in der Gürtelstraße). Die Turnhallen wurden geräumt. Wenige Stunden später lieferte das THW Holzplatten, die sofort mit Unterstützung der Freiwilligen auf dem teuren Hallenboden verlegt wurden. Samstag kamen dann billige Stockbetten, die schnell aufgebaut wurden. Außerdem musste geklärt werden, welche Nebenräume als Spielzimmer, Essensausgabe oder Kleiderkammer geeignet sein könnten, ob die sanitären Anlagen funktionieren und ausreichen oder ob noch Dixi-Klos aufgestellt werden müssen. Ein Betreiber für die Unterkunft wurde noch gesucht, man verließ sich unbürokratisch und dankbar auf die freiwilligen Helfer. Die waren zahlreich vor Ort: um die 50 in der Gürtelstraße, eine Woche später 70 in der Otto-Ostrowski-Straße. Und schließlich kam die Bettwäsche.
Ivonne fand in diesem Moment eher zufällig den Aufruf von „Friedrichshain hilft“ im Internet: „Wir brauchen JETZT Hilfe in der Gürtelstr., hier sind jede Menge Betten zu beziehen und es sollen heute Flüchtlinge einziehen!“
Sie fuhr hin – und blieb. Zum ersten Jahrestag resümiert sie diese Zeit auf Facebook. Sie schreibt auf deutsch und arabisch an „ihre Jungs und Mädels“. Der vollständige Text von Ivonne ist mit Übersetzung hier zu finden. An ihren ersten Abend erinnert sie sich so:
„So ergab es sich also, das ich mich in einer Turnhalle wiederfand und nicht mal Zeit fand, zu fragen, was ich tun könne, geschweige denn meine Sachen abzulegen, man drückte mir vom LKW aus schon den ersten Pappkarton in die Hand. Ich fragte nicht, ich verfolgte einfach die anderen Kistenträger, der Inhalt stellte sich dann als Bettwäsche heraus. … Wir bezogen dann also Betten, lernten uns rudimentär kennen, ich schielte schon immer auf die Uhr, wohlwissend, dass ich morgen früh raus müsse, nun waren da aber einfach noch so viele Betten zu beziehen.
… Ok, fertig, ab nach Hause! Auf dem Weg nach Hause wurde ich durch eine Teambesprechung gestoppt, die dann abrupt damit endete, dass die Security im Raum stand „Die Busse sind da.“ – WAS?! – Ich stehe vor der Tür und ein ganzer Treck müder und abgekämpfter Menschen reiht sich vor mir auf … und guckt mich fragend an… ich gucke fragend zurück … Eine Frau mit vielen Kindern drückte mir ihr Baby in den Arm, um sich um die anderen Kinder zu kümmern. *Öhm …* Jetzt kann ich hier nicht mehr weg.
Alltag in der Turnhalle
Es war November, die Menschen kamen direkt vom Zug, viele ganz ohne Gepäck. Sie mussten versorgt werden, sich registrieren lassen und ihre Anträge auf Asyl stellen. Es dauerte Monate, bis eine Art Alltag in die Turnhallen einkehrte: Die Kinder gehen in die Schule oder die Kita, alle besuchen Integrationskurse und warten auf Termine beim Amt. Ohne Aufenthaltstitel gibt es keine Wohnung und keinen Job, also keine Chance aus der Turnhalle rauszukommen. Freiwillige Helfer organisieren Kleiderkammern, Nachhilfe, Anwälte, Ärzte, Kinderbespaßung, laden die Familien nach Hause ein. Freundschaften entstehen.
Ivonne berichtet:
„Die nächsten Tage trieb es mich nach Feierabend zurück in diese Turnhalle, ich weiß beim besten Willen nicht, wieso. Aus Tagen wurden Wochen, Monate. Ein zynisches „mabrouk“ an dieser Stelle. Ich fand mich in einer Kleiderkammer wieder und lernte sehr schnell ein neues Wort „Ma fi!“ Ich hatte keine Ahnung, was das heißt, aber einer der jungen Männer, welcher uns in der Kleiderkammer half, rief es und die Massen beruhigten sich. … Der Stresslevel war also hoch, auf beiden Seiten, die wenigsten sprachen Englisch und wenn dann doch mal jemand zum Übersetzen taugte, dann wurde diese Person sehr schnell überstrapaziert. Schnell sollten wir Freiwilligen auch die Ansprechpartner für alles werden, von „Wie komme ich zur S-Bahn“ über „Was steht in diesem Papier?“ bis hin zu „Ich suche eine Frau.“ Wie wichtig eine gemeinsame Sprache ist, wurde mir erst jetzt bewusst.
Mittlerweile haben wir fast alle eine Möglichkeit gefunden, uns zu verständigen, einige haben schon sehr passables Deutsch gelernt, ich ein paar Brocken arabisch und die Feinheiten des Google- oder Facebookübersetzers erkennen wir dann auch. „Deine Mama sagt Gesundheit maus maus maus!“
Plötzliches Sprachverstehen ist aber leider auch nicht der erhoffte Segen. Plötzlich wird man mit Geschichten konfrontiert, die man sonst nur aus den Nachrichten, bestenfalls noch aus einem Film kennt. Da sollte dem Mann, der jetzt grinsend an der Wii zockt, noch im letzten Jahr der Kopf abgeschnitten werden, die Frau, die auf deinem Balkon die Blumen bewundert, zwangsverheiratet mit einem Terroristen und der Mann, der dich anruft, weil er dir einen Kuchen bringen will, hatte nicht mal Zeit, sich von Frau und Kinder zu verabschieden, weil er Hals über Kopf fliehen musste, als er zu Besuch in einer anderen Stadt war. Plötzlich ist der Krieg sehr nah, sitzt quasi mit am selben Tisch.“
In den Turnhallen schaffen Trennwände aus Stoff und Holzlatten ein bisschen Sichtschutz, aber trotzdem keine Privatsphäre. Der Nachbar schnarcht, auf der anderen Seite wacht das Kind auf, gegenüber träumt jemand schlecht. 250 Menschen in einer Turnhalle, bis jetzt 400 Tage und Nächte. Langeweile und Frust machen sich breit, manche geben auf, es gibt Streit. Alkohol und Drogen schaffen neue Probleme.
Die Verwaltung übernimmt die Kontrolle
Mitte 2016 wird das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) gegründet. Die Kluft zwischen Amtlichen und Ehrenamtlichen wächst wieder. Und längst läuft nicht alles rund: Auch im Dezember 2016 leben noch Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus in Turnhallen. Neue und bessere Unterkünfte stehen leer, weil in der Ausschreibung für die Betreiber ein Formfehler war. Immer noch sind zahlreiche Menschen bei „Friedrichshain hilft“ engagiert, um die Neu-Berliner zu unterstützen. Optimal wäre, meint Matthias, wenn man jetzt aus den Erfahrungen von 2015, die die vielen Ehrenamtlichen, die beteiligten Ämter und die Flüchtlinge machen mussten, lernen würde und ein angemessenes Konzept für zukünftige Flüchtlingsströme erarbeiten. Stattdessen hat sich der landesweite Koordinierungsstab aufgelöst, denn zurzeit kommen weniger Flüchtlinge in Berlin an.
Ivonne meint: „Ich möchte hier kein Fazit ziehen, denn es ist nicht vorbei. Noch sehr lange nicht. Meine Jungs sagen mir mittlerweile grinsend „Wir schaffen das!“ „Müssen wir ja, was bleibt uns auch anderes übrig?“ antworte ich. „Wir müssen nicht, wir machen!“ sagen sie und das erscheint mir als ein gutes Schlusswort.“