Heike Weingarten, die Mitbegründerin des Mieterladens Kreutzigerstraße 23
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Wer hat eine solche Situation noch nicht erlebt: Ein Schreiben des Vermieters flattert ins Haus. Obwohl man ungefähr weiß, wie darauf reagiert werden sollte, geht man lieber zu einer Beratung, denn sicher ist sicher. Wie wertvoll diese Beratung ist, merkt man meist erst, wenn man sie braucht. In der wohl ältesten unabhängigen Mieterberatung des Bezirks, die in der Kreutzigerstraße 23 residiert, habe ich mich mit Heike Weingarten verabredet. Sie strahlt mich an, als ich eintrete. Doch nicht nur mir kommt diese freundliche Behandlung zu, sondern auch den anderen Bekannten, die im Verlauf des Gesprächs am Laden vorbeigehen und sie durch die offenstehende Tür hineingrüßen. Der Vorfrühling weht frische Luft hinein und erinnert an die Zeit der Gründung des Mieterladens, der eine echte Revolutionserrungenschaft ist. Doch diese nahm an anderer Stelle ihren Anfang.
Aufbruch im Nordkiez
In der Bänschstraße 79, gleich neben der legendären, aber längst vergessenen Kneipe „Taubenschlag“ besetzte Heike mit ein paar Freunden 1990 einen leerstehenden Laden der Nationalen Front. Dies war eine Organisation, die von 1949 bis 1989 alle Parteien und Massenorganisationen der DDR unter der Führung der SED zusammenhielt, und nun ausgedient hatte. „Zuerst dachten wir an einen coolen Raum für Partys“, gibt sie lachend zu. „Doch mit dem aufkeimenden Bewusstsein, dass es bald zu Mietsteigerungen kommen würde, entschieden wir uns bald für eine Beratungsstelle.“
Der Ruf der großen Stadt
Heike wuchs am Stadtrand in Wilhelmshagen im Bezirk Köpenick auf. Wie bei vielen jungen Leuten übte die Innenstadt von Berlin einen unwiderstehlichen Bann auf sie aus. Freunde fand sie in zwei Cliquen, die unterschiedlichen Randgruppen angehörten: Punks und New Romantics. „Die waren alle schon etwas älter als ich. Bei manchen Fragen, die mir so kamen und die mir keiner in der Schule beantworten konnte, waren sie schon etwas weiter. Da konnte ich was dazu lernen.“ Dies ist eine typische Umschreibung für die Feststellung, die viele DDR-Jugendliche machten: Politik und Gesellschaft um sie herum waren alles andere als so schön human und freundlich, wie es Lehrer und Medien glauben machen wollten.
„Meine Romantic-Freunde zogen mich ab und zu auf und riefen: ‚Na, jehste wieder zu deine Schmuddels?‘ Und umgekehrt, sprachen die Punks ähnlich abschätzig über die anderen. Aber die Akzeptanz in beiden Szenen hat auch meinen Blick erweitert.“
Spaß und Revolution
Mit ihren Freunden traf sie sich in Läden wie dem „Allende-Club“, in „Hirschgarten“ oder im „ABC-Club“ – angesagte Lokalitäten im Osten der Stadt. Beim „Alex-Treff“ kamen ihre New Romantics-Freunde zusammen. Auch war sie oft in der Galiläa-Kirche in der Rigaer Straße, wo sich seit 1983 zweimal in der Woche die Punks trafen. „Politik und Party lagen damals sehr nahe beieinander“, erklärt sie. „Es gab Zeiten, da war es gefährlich, Alkohol zu trinken, weil man immer auf der Hut vor der Polizei sein musste. Wegen der täglichen Schikanen war es für Punks in der DDR so gut wie ausgeschlossen, unpolitisch zu bleiben. Einmal hat sie sogar für Greenpeace an einer konspirativen Probeentnahme an der Werra teilgenommen – was ihr für den Fall des Erwischt-Werdens mehrere Jahre Gefängnis eingebracht hätte. Sie erinnert sich an ihren Stolz, als das Ergebnis durch die Westmedien ging: „Erster deutscher Fluss, der biologisch tot ist!“
Wie verschieden Ängste wahrgenommen werden, versucht mir Heike anhand eines Beispiels zu erläutern. „Eine ehemalige Schulfreundin tat mir gegenüber einmal sehr geheimnisvoll und ließ durchblicken, etwas ganz Verbotenes gemacht zu haben. Als ich nachfragte, stellte sich heraus, dass sie und ihr Freund irgendwo schwarz gezeltet hatten.“ Da lebte Heike aber schon längst nicht mehr im Randgebiet der Stadt.
Von Wilhelmshagen nach Friedrichshain
Mit dem Beginn der Lehre erwies es sich als notwendig, aus Wilhelmshagen fortzuziehen. „Ich wollte etwas mit Menschen machen. Auf keinen Fall im Büro sitzen oder an irgendeiner Maschine stehen. Blumenbinderin wäre ich gern geworden, doch für meine Noten, die an sich nicht schlecht waren, existierten zu wenig Ausbildungsplätze in der Stadt. Da gab mir meine Mutter den Tipp, Verkäuferin zu werden.“ Heike wurde Fachverkäuferin für OGS. Sie lacht auf, als ich frage, was diese geheimnisvolle Abkürzung bedeutet und klärt auf: „Obst, Gemüse und Speisekartoffeln“.
Ihr Ausbildungsbetrieb lag in Berlin-Mitte. Die Frühschicht begann so zeitig, dass manchmal noch keine S-Bahnen fuhren. Also besetzte Heike eine leerstehende Wohnung in der Boxhagener Straße. „Das war 1986, ein furchtbar kalter Winter, in dem es keine Kohlen mehr zu kaufen gab!“ Sie erinnert sich daran, dass ein LKW auf der Straße Kohlen abkippte, damit sich die Leute, die keine hatten, welche nehmen konnten. „Meine erste Einrichtung bestand aus einer Matratze mit Decke, einem Stern-Recorder, einem Wecker und einem Kaninchenfellmantel. Das reichte normalerweise, aber als es doch zu kalt wurde, musste ich für eine Woche fliehen.“ Auf die Frage, warum sie ausgerechnet in diesen Bezirk gezogen ist und nicht in den als „szenig“ bekannten Prenzlauer Berg, hat sie eine prompte Antwort parat: „Ich finde es in Friedrichshain familiärer!“
Steigende Mietpreise
In der Nachwendezeit gab es über hundert Besetzerprojekte im Osten der Stadt. Inoffiziell kursierte eine Zahl von 25.000 leerstehenden Wohnungen. Friedrichshain wurde ein Brennpunkt der Besetzer-Bewegung, da fiel der eine besetzte Laden in der Bänschstraße 79 nicht so sehr ins Gewicht. Dennoch machte er schnell von sich reden, schließlich stiegen die Mietpreise in der Tat im Osten sprunghaft an. Eine Räumung der inzwischen überall bekannten Mieterberatung durch die gewendete Wohnungsbaugenossenschaft galt nicht gerade als opportun. Dennoch zogen sich die Verhandlungen um einen Mietvertrag bis 1994 hin, bis der Laden schließlich legalisiert war.
„Schon Anfang 1990 waren wir arbeitsfähig“, erzählt Heike stolz. „Wir hatten einen Ost- und einen Westanwalt.“ Als nach einer Übergangsfrist das westdeutsche Berufsrecht der Anwälte griff, das eine kostenlose Rechtsberatung verbot, galt es, umzudenken. Mit Unterstützung des Mietervereins gelang es, die Beratung aufrecht zu halten. 1992 wechselte man zu einem anderen Mieterverein, der Mietergemeinschaft, mit der der Mieterladen bis heute eng verbunden ist.
Umzug in den Südkiez
1997 wurden die Betreiber des Mieterladens von den Bewohnern der Kreutzigerstraße 23 gefragt, ob sie zu ihnen in den Laden ziehen wollten, der bis dahin einen Gemeinderaum des Hauses beherbergte. Gleich nebenan in der Nummer 21 hatte sich die berühmte Besetzerkneipe „Pilatus“ befunden, benannt nach einem Sprachwitz: der am meisten berüchtigte Kreuziger. Am neuen Standort, der zentraler gelegen war, führten sie ihre Beratungen kontinuierlich weiter, lediglich einmal für zwei Wochen um Weihnachten und Neujahr 2001 wegen Sanierungsarbeiten unterbrochen.
Viele Jahre bot der Laden auch Sozialberatung an. Die Nachfrage stieg jedoch immens und konnte aus räumlichen Gründen nicht mehr vor Ort bewältigt werden. Zunächst sprang die Volkssolidarität ein, die um die Ecke ihren Sitz hat. Jetzt leistet diese Beratung das Stadtteilzentrum Friedrichshain in der Warschauer Straße. Heute ist die Sozialanwältin immer noch einmal im Monat vor Ort. Die Mieterberatung läuft auf Spendenbasis und wird von allen möglichen Leuten angenommen, von jung bis alt, arm bis wohlhabend. Haben sich die Themen geändert? „Die Probleme sind heute komplexer, multipel“, erklärt Heike. „Wer Problem mit der Miete hat, der hat gewöhnlich auch andere Probleme, zum Beispiel keine Arbeit, mitunter auch psychische Probleme und so weiter. Das macht die Beratung nicht einfach.“
Die eigene Erfahrung einbringen
Wie schnell man unvermutet ins Abseits geraten kann, hat Heike selbst erfahren. 2003 befand sie sich in einer Krebsnachsorge und arbeitete verkürzt als Aufstockerin, als ihr Vater starb. Neben der Trauer und den Begleiterscheinungen trat die Ungemach hinzu, ein 1942 erbautes Behelfsheim geerbt zu haben, das sie nicht wollte. Der richtige Kummer wurde ihr jedoch von unerwarteter Seite bereitet. Für das Jobcenter galt sie nun als Immobilienbesitzerin, ihre Mietzahlungen wurden gekappt. Heikes Bitte um eine paar Monate Aufschub, um das Haus zu verkaufen, wurde abgewiesen. Sie musste ihre Wohnung in Friedrichshain aufgeben, in die sie jahrelang ihre spärlichen Ersparnisse gesteckt hatte, und an den Stadtrand ziehen. „Ich fiel wie in ein Loch. Es hat Jahre gedauert, um mich von diesem Schlag zu erholen. Jedes bisschen Geld, was jetzt übrig bleibt, muss ich in neue Balken stecken. Ein Verkauf würde sich nicht lohnen.“
Es gibt immer was
Verzagen ist nicht ihre Art. Seit über 26 Jahren ist Heike regelmäßig im Mieterladen, organisiert dessen Betrieb mit und engagiert sich für das im gleichen Haus eingerichtete „Studio Ansage“, das über „Sender Berlin“ auf UKW 88,4 Megaherz unabhängiges Stadtradio produziert. Auch organisiert sie Infostände auf Straßenfesten. Sie zeigt auf das neugebaute Haus auf der gegenüberliegenden Seite. „Denen hat man eine Wohnlage in einer ruhigen Seitenstraße versprochen, und die haben gekauft, ohne sich das angesehen zu haben. Letztes Jahr wollten die einfach unser Straßenfest verbieten. Aber das geht nicht so leicht.“ Nach einem kurzen Schweigen setzt sie hin zu: „Statt sie froh sind, in eine Gegend gekommen zu sein, wo die Leute noch aufeinander achten und miteinander reden.“