Herr Gabelsberger und eine Straße.
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Zu den vornehmen Gegenden gehörte sie nicht, die Gabelsberger Straße. Sie brachte aber der „Offenen Grundstückgesellschaft Grimmig Block & Ernst“, gutes Geld ein. Rentier Henry Hempel – Rentiers lebten vom Gewinn erworbener Grundstücke – wollte ebenfalls ein Stück vom Kuchen haben und kaufte sich die Nummer 1 der Gabelsberger. In den bald errichteten Neubau zog er nicht ein, sondern er lebte in der Bergmannstraße 52, in der feinen „Luisenstadt“, die später als SW 61, ein Teil von Kreuzberg wurde. In der Köpenicker Straße 114, beziehungsweise in „Südost 36“, ebenfalls späteres Kreuzberg, wohnte der gar nicht arme Student Hans Kirchner, dem die Nummer 8 der Gabelsberger Straße gehörte. Ernst Schwarz, dem die Nummer 14 gehörte, war ein Fabrikbesitzer, der in der Melchiorstraße 25 sein Zuhause hatte. 1901 wollte ein Herr Hagemeister seine Chance nicht verpassen und kaufte das Grundstück Gabelsberger Straße 15. Er gab es aber schnell an den Herrn Lautenschläger weiter, einem Fabrikbesitzer. Der zögerte nicht lange und erteilte der renommierten „Paul Zöllner & Co. Cementbaugeschäft“ aus der Charlottenburger Dennewitzstraße 19 den Auftrag, ein gutes Wohn- und Geschäftshaus zu bauen. Eines ohne tief gestaffelte Hinterhäuser, nur das Vorderhaus, in dem er selber wohnte, dazu zwei Seitenflügel und dem Querflügel, alles um einen großen Hof gruppiert. Kaum war das Haus fertig gebaut, meldete Paul Seidler, der an der Großen Frankfurter Straße 102 seine Kneipe hatte, Interesse an. Seidler bekam den Zuschlag, hatte wahrscheinlich wenig Freude mit dem Haus und verkaufte es 1906 an Albert Leser, der für einen Laden im Parterre eine provisorische Kellertreppe einbauen durfte. Am 2. Oktober 1908 waren alle Filetstücke verteilt und die Nummerierung der Gabelsbelsberger abgeschlossen. 1910 erhielt das Vorderhaus der Nummer 15 die ersten Badeinrichtungen der Straße.
Gesprochen gleich geschrieben
Um Miss- oder Fehlverständnisse auszuschließen, mussten alle Verhandlungen zu den Transaktionen zum Kauf oder Verkauf von Häusern der Gabelsberger Straße wortgetreu festgehalten werden. Da es in dieser Zeit keine elektronischen Geräte zur Gesprächsaufzeichnung gab, wurden die Live-Protokolle in Kurzschrift „aufgenommen“. Kurzschriften, bestehen aus einfachen Zeichen, mit denen es möglich ist, schriftliche Aufzeichnungen anzufertigen, die dem Sprechtempo angeglichen sind. Wo der Unkundige eine Ansammlung von Häkchen oder Kringeln, sieht, erschließen sich dem „Stenographen“, Buchstaben oder Kürzel für komplette Wörter und Kürzelsymbole für bestimmte Laute und vieles mehr. Franz Xaver Gabelsberger war nun jemand, der ein eigenes Kurzschriftsystem entwickelte. 1834 ließ er seine „Anleitung zur Deutschen Redezeichenkunst“ veröffentlichen. Bereits ein Jahr vorher, 1833, konnte er sein System in der Öffentlichkeit testen. Als bayerischer Ministerialbeamter war er verpflichtet, die Gerichtsverhandlungen protokollarisch festzuhalten, was er in den von ihm kreierten Zeichen und Kürzeln tat. Er war nicht der erste auf diesem Gebiet: Schon zur Römerzeit war ein erstes System entwickelt, mit dem sich die Sitzungen im Senat live aufschreiben ließen. Das erste vollständige stenografische Alphabet wurde eingeführt. Als erstes deutsches Lehrbuch für Kurzschrift wurde 1678 die “Tacheographia” veröffentlicht. Als Gabelsberger sein System vorstellte, war es ein leuchtender Zweig in einem Dickicht hunderter ‚Kanzleischriftsysteme‘, die gleichzeitig im Gebrauch waren. Etliche dieser Schriften nahmen Anleihen beim Gabelsberger, indem sie seine Zeichen für andere Buchstaben benutzten, oder die Regeln zur Verwendung der Kürzel änderten. Um dem Durcheinander von Schriften und Schulen ein Ende zu setzen, kam es im Laufe vieler Jahre zur Entwicklung einer einheitlichen Deutschen Kurzschrift, die 1924 vorgestellt, als allgemein gültig eingeführt wurde und seit 1968 in einer modernisierten Form weiterhin im Gebrauch ist. ‚Steno‘ wird im Bundestag praktiziert, technische Anwendungen gelten im Konfliktfall als zu unsicher. Alle Diskussionen werden von mehreren Stenografen mitgeschrieben, überwacht von einem Chefstenografen.