1994: Die Oberbaumbrücke versteckt sich hinter Baugerüsten. Drei Jahre später waren auch die Türme wieder drauf. / Foto: Slivio Weiß /

Hin und her ohne Grenzen

Wild und ein bisschen romantisch: Sylvester an der Oberbaumbrücke. / Foto: Anke Wagner /
Wild und ein bisschen romantisch: Sylvester an der Oberbaumbrücke. / Foto: Anke Wagner /

Streit um die Oberbaumbrücke

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Karl P. saß vor seinem Computer, ausgerüstet mit 4 Megabyte und schrieb an einem wichtigen Brief. Zwischendurch blickte er auf den Fernseher. Dort lief ein Film über den Hitlerattentäter Georg Elser. Unvermittelt brach der Film wegen einer Direktübertragung aus Warschau ab. Helmut Kohl gab eine Pressekonferenz, der Karl P. keine Aufmerksamkeit schenkte. Aber dann, in der Spätausgabe der Tagesschau, kam ein Live-Bericht vom Grenzübergang Bornholmer Str. Die Grenze war geöffnet, johlende Menschen winkten in die Kamera, der Reporter sagte, auch die Oberbaumbrücke wäre geöffnet. Karl P. mochte es nicht glauben und lief dorthin. Tatsächlich, überall Menschen. Dunkel erinnerte sich Karl P. an ein Berlin ohne Mauer. Und stand inmitten von Menschen, die berlinerten. Er als Westberliner hatte sich das längst abgewöhnt. Er wurde nach dem „Reichskanzlerplatz“ gefragt, für ihn die Erinnerung an Wechselstuben, Ausflügen zum Tierpark wegen günstiger Preise zum Wechselkurs und an alte Lehrer mit NS-Vergangenheit. Am 18. November 1989 passierten etwa 50.000 Fußgänger die Oberbaumbrücke in Richtung Kreuzberg und etwa 45.000 in Richtung Friedrichshain. Kontrollen gegen „Schieber und Spekulanten“ gab es dennoch, Unterwäsche, Strümpfe, Bettwäsche wurden beschlagnahmt, eine Handgranate im Gepäck gefunden.
Bereits am 7. Dezember rief die „Grüne Partei“ der DDR zusammen mit der Westberliner „Alternativen Liste“ zu einer Demonstration vom Frankfurter Tor zur  Oberbaumbrücke gegen Neofaschismus und Ausländerfeindlichkeit auf.
Zum ersten gemeinsamen Sylvester versammelten sich hunderte Feierlustige an der Oberbaumbrücke und wurden böse, als sie nicht „rüber machen“ konnten. Brennende Bauwagen und LKW, jede Menge Flaschenscherben auf der Straße und ein Großeinsatz von Polizei und Feuerwehr war das Ergebnis. Am 20. April 1991 versammelten sich etwa 1.000 Personen zur ersten bezirksübergreifenden antifaschistischen Demonstration vom Kottbusser Tor über die Oberbaumbrücke zum Nöldnerplatz in Lichtenberg.

1992: Flyer Oberbaumbrücke / Quelle: Flugblatt, FHXB-Museum /
1992: Flyer Oberbaumbrücke
/ Quelle: Flugblatt, FHXB-Museum /

Konzepte

Im Februar 1991 begannen bautechnische Untersuchungen mit dem Ziel, die Oberbaumbrücke als Verkehrsverbindung zu nutzen. 65 Millionen DM, davon  12,5 Millionen für den Fußgänger- und Fahrzeugverkehr, waren als erste Summen veranschlagt. Zur Diskussion stand die Verlängerung der U-Bahn von der Oberbaumbrücke bis zum Frankfurter Tor. Der Architekt Santiago Calatrava entwarf für die Oberbaumbrücke einen flachen Stahlbogen, der den im Krieg zerstörten und provisorisch zugefügten Mittelteil zwischen den Türmen ersetzen sollte. Die ebenfalls im Krieg in Mitleidenschaft gezogenen und später abgetragenen Türme sollten den Originalen entsprechend neu aufgebaut werden, wie auch die Jahrzehnte lange Vernachlässigung der Bausubstanz erhebliche Nachbesserungen erforderte. Für die U-Bahn wurden die Arkaden und ein zweiter Bogen vorgesehen.
Jedoch, als wichtigstes Vorhaben sollte die Oberbaumbrücke vierspurig dem Autoverkehr geöffnet werden. Dies rief Proteste der Kreuzberger Stadtentwicklungsgesellschaft S.T.E.R.N. hervor, denn alle Planungen sollten ohne Bürgerbeteiligung erfolgen. Von der Kreuzberger Baustadträtin Erika Romberg unterstützt, forderten der Stadtteilausschuss SO 36 und andere Initiativen dem öffentlichen Personennahverkehr die höchste Priorität einzuräumen. Die Sprecherin der Senats-Verkehrsverwaltung, Frau Dung, antwortete: „Es ist engstirnig, an Kreuzbergs ruhiger Situation vor dem Mauerfall festhalten zu wollen“.

1992: Demo für die Oberbaumbrücke, die kurz danach besetzt wurde. / Quelle: Flugblatt, FHXB-Museum /
1992: Demo für die Oberbaumbrücke, die kurz danach besetzt wurde.
/ Quelle: Flugblatt, FHXB-Museum /

Irgendwo protestiert immer jemand gegen irgendwas

Auf 60.000 Autos pro Tag mit einem Geräuschpegel auf bis zu 80 Dezibel schätzte Peter Kling von der Bürgerinitiative „Stoppt die Blechlawine“ das künftige Verkehrsaufkommen im Bereich der Oberbaumbrücke. An der Schlesischen Straße, die sich von einer mauerbedingten Sackgasse zur Hauptachse zwischen Treptow und Mitte wandelte, hatte er 1.200 Fahrzeugen pro Stunde gezählt. Zehn Prozent aller Lungenkrebserkrankungen in Innenstadtbezirken gingen laut einer Studie vom Dezember 1991 auf den Kfz-Verkehr zurück. Flugblätter gegen den Ausbau der Brücke wurden verteilt. Kommentar des Referenten vom Bausenator: „Irgendwo protestiert immer jemand gegen irgendwas“.
Im März 1992 wehrten sich unter dem Motto: „Die Straßen zum Lebensraum zurückerobern“ Anwohner im Verbund mit Initiativen per Bürgerbegehren, Aktionstag und einer Verkehrsblockade gegen die Verkehrsplanung an der Oberbaumbrücke. Der Friedrichshainer Bürgermeister Helios Mendiburu trat für einen Volksentscheid gegen diese Pläne ein. 6.500 Unterschriften konnten gesammelt werden für ein Bürgerbegehren gegen die Öffnung der Oberbaumbrücke für Autos. Zur Unterstützung standen etwa tausend Demonstranten am 10. Mai auf der Oberbaumbrücke. Gleichzeitig wurde eine 18 Kilometer lange Menschenkette gebildet, um den Autoverkehr auf dem innerstädtischen Straßenring für fünf Minuten stillzulegen.

1992: Besetzung der Oberbaumbrücke / Quelle: Flugblatt, FHXB-Museum /
1992: Besetzung der Oberbaumbrücke
/ Quelle: Flugblatt, FHXB-Museum /

Brückenbesetzung

Am 6. Juni zogen dann 50 Besetzer mit Zelten, Bauwagen auf die Oberbaumbrücke mit dem Ziel, die Brückenöffnung für Autos zu verhindern. Auf der Suche nach einem Parkplatz überquerte ein Autofahrer trotz Sperrung die Brücke. Es kam zum Konflikt mit den Besetzern, wobei ein Besetzer vom Auto erfasst mehrere Meter durch die Luft geschleudert mit schweren Kopfverletzungen liegen blieb. Tage später wurde die Brücke geräumt und seit 1995 ist die Brücke ein Verkehrsmittelpunkt.

Theaterschlachten

Karl P. verließ „sein Kreuzberg“ angesichts der Schließung der meisten Stände in der Markthalle schräg gegenüber; auch er musste wegen steigender Miete seine kleine Galerie aufgeben. Die lauschigen Abende am Spreeufer gehörten seit der Mutation vom Kiez zur Touristenhochburg sowieso der Vergangenheit an. Zur Parodie auf den „Ost-West-Konflikt“ zwischen Friedrichshain und Kreuzberg geriet die „Gemüseschlacht“ auf der Oberbaumbrücke. Teilweise von der Alba AG und der Piratenpartei unterstützt, bewarfen sich die Teilnehmer zwischen 1998 und 2013, stets Ende August oder Anfang September mit faulem Obst und Eiern, wobei meistens die Friedrichshainer Oberhand gewannen. Das letzte Mal geschah dies am 22. September 2013.
Einen kleinen Erfolg können auch die Brückenbesetzer verzeichnen: Für die 14. OpenAirGallery gehört die Oberbrücke am 5. Juni und 3. Juli 2016 der Kunst, und die Autos müssen „draußen“ bleiben.

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