Selbstporträt des Friedrichshainer Künstler Jürgen Wittdorf, 1989 aus der Sammlung von Jan Linkersdorff

Vom Leben gezeichnet

Selbstporträt des Friedrichshainer Künstler Jürgen Wittdorf, 1989 aus der Sammlung von Jan Linkersdorff
Ein kritischer Blick. Selbstbildnis von Jürgen Wittdorf, 1989 / Sammlung Jan Linkersdorff /

Ausstellung in Erinnerung an den Friedrichshainer Künstler Jürgen Wittdorf.

Von Jan Linkersdorff.

Mein erstes Treffen mit Jürgen Wittdorf geht auf das Jahr 1987 zurück. Ich wollte meine Zeichenkünste verbessern und besuchte den Zeichenzirkel im Haus der Jungen Talente. Jürgen Wittdorf war mein Zeichenlehrer. Als ich vor sieben Jahren bei der Studio Galerie Berlin anfing, zu arbeiten, und diese dann von Gisela Frischmuth übernommen habe, sah ich Wittdorf am Fenster vorbeilaufen. Er wohnte direkt hinter der Galerie. (In der Friedrichshainer Chronik gab es einen wunderbaren Beitrag von Michael Sollorz, Ausgabe März 2013.) So hatten wir wieder Kontakt, haben uns unterhalten und fortan freundlich gegrüßt, wenn wir uns über den Weg gelaufen sind. Später lief er in Begleitung von Andreas Sternweiler, einem langjährigen Mitarbeiter im Schwulen Museum, und dessen Freund Wolfgang an der Galerie entlang auf dem Weg zur Gaststätte Garbe, wo er häufig essen war. Die beiden informierten mich dann 2018 über den Tod von Jürgen Wittdorf.

Holzschnitt von Jürgen Wittdorf aus der Sammlung von Jan Linkersdorff
In den 1960er-Jahren gewagt: unverblümte Nacktheit / Sammlung Jan Linkersdorff /

Ein Lebenswerk auf dem Trödel

2019 kam Wolfgang in die Galerie und berichtete von einer Auktion, bei der die Arbeiten von Wittdorf versteigert würden. Die eigentliche Erbin, seine eine über 80-jährige Schwester, hatte das Erbe ausgeschlagen, denn er hatte erhebliche Schulden von der Pflege wegen seiner Demenz in den letzten Jahren. Ich wollte ein Bild ersteigern, vielleicht zwei Keramikteller. Aber es war keine Kunstauktion, sondern eine Nachlass-Haushaltsauflösungs-Auktion. Unfassbar: Das Lebenswerk von Jürgen Wittdorf war hier gelandet. Eine riesige vollgestopfte Halle. Wittdorfs Bilder hingen teils 40 Jahre in seiner Wohnung und waren sehr angegriffen. Ihr Transport zur Auktionshalle des Auktionshauses Beier war kein Kunsttransport gewesen. Möbelpacker hatten die Bilder auf den LKW gepackt, wobei viele Bilderrahmen kaputt gingen und Glas zerbrach. Aber die Arbeiten blieben unbeschädigt. Eigentlich ersteigern hier die Berliner „Trödelmarktprofis“ die Ware für die Trödelmärkte in der Stadt. Es war kurz davor, dass das Lebenswerk Wittdorfs über die Berliner Trödelmärkte verstreut worden wäre. Ich bot mit und statt eines Bildes hatte ich schließlich 200 gerahmte Bilder und 80 Keramikteller von Jürgen Wittdorf ersteigert. Nach der Auktion war ich vollständig erschöpft. Innerhalb von drei Tagen wollte ich das Un-Zeiten alles abholen. Aber die Frau an der Kasse sagte: „Also 18 Uhr muss die Halle besenrein sein!“ Ich war fix und fertig, organisierte mit Freunden den Transport zur Galerie. Seitdem bin ich dabei, alles zu dokumentieren und die Rahmen aufzubereiten. Zum Glück bin ich gelernter Tischler und habe an der Komischen Oper gelernt, wie das geht. Das habe ich jetzt so gut wie hinter mir. Fast alle Bilder sind wieder aufgearbeitet. Jede freie Stunde bin ich in meiner kleinen Werkstatt. Warum ich diese Arbeit auf mich genommen habe? Ich kann das schlecht beschreiben. Es ist wie eine Aufgabe, die mir bestimmt ist. Ich bin in Friedrichshain geboren. Wittdorf war ein Künstler aus Friedrichshain. Er war mein Zeichenlehrer. Dann die Begegnung an der Studio Galerie. Der Tod und die Auktion, bei der ich mitgeboten habe, was ich eigentlich nicht geplant hatte. Aber nur so konnte sein Werk umfassend erhalten werden.

Holzschnitt von Jürgen Wittdorf aus dem Zyklus „Jugend“ | Sammlung von Jan Linkersdorff
Jugendliche „Gammler“ mit Kofferradio. Aus dem Zyklus „Jugend“, 1961. / Sammlung Jan Linkersdorff /

Ein Blick auf ungewollte Realitäten

Wittdorf hatte die Jugendlichen in der DDR 1962 in seinem „Zyklus für die Jugend“ rebellisch gezeigt und war damit zunächst bei den Kulturfunktionären angeeckt. Jugendliche in Jeans und Lederjacke, „Halbstarke“ und knapp bekleidete Mädchen, frontale Nacktheit waren nicht im Sinn der Kulturfunktionäre und wurden als „Verwestlichung“ stigmatisiert. Die Kritiker lenkten ein, als sie der positiven Resonanz in der Jugend gewahr wurden, denn die Jugendlichen mochten die Ausdrucksweise. Wittdorf wurde bekannter und die Funktionäre erkannten seine Kraft. Seine Holzschnitte wurden in verschiedenen Mappen gedruckt. „Zyklus für die Jugend“ war seine erfolgreichste. Es gab auch den Zyklus „Tiermütter“ und andere.
An der Akademie der Künste in Ost-Berlin war Wittdorf von 1967 bis 1969 Meisterschüler bei Lea Grundig. Anfangs wohnte er im Bezirk Lichtenberg, später in Friedrichshain am Petersburger Platz, dann in der Kreutzigerstraße. Wittdorf arbeitete freischaffend und hatte regelmäßig Ausstellungen. Zeitgleich war er bis 1991 Zeichenlehrer im Haus der Jungen Talente und im Haus des Lehrers. Die Institute wurden geschlossen. Wie so viele Künstler aus der DDR war auch Wittdorf plötzlich auf staatliche Unterstützung angewiesen.

Holzschnitt von Jürgen Wittdorf aus „Zyklus für die Jugend“, 1961 | Sammlung von Jan Linkersdorff
Für Tugendwächter eindeutig unsittlich. Aus „Zyklus für die Jugend“, 1961 / Sammlung Jan Linkersdorff /

Bilder, die gezeigt werden sollen

2004 widmete das Schwule Museum Jürgen Wittdorf eine erste Ausstellung, eine Wiederentdeckung. 2012 folgte dort zu Wittdorfs 80. Geburtstag eine zweite Ausstellung, die ihn als „Chronist des DDR-Alltags“ zeigte. Wittdorf lebte von Sozialhilfe und verlor 2007 seinen Partner, mit dem er 25 Jahre verbracht hatte. „Durchs Leben gezeichnet“ war 2013 der Titel seiner letzten Ausstellung im Museum Lichtenberg. Die Ausstellung im KVOST Als ich Stephan Koal vom KVOST – Kunstverein Ost von der Sammlung erzählte, war er sofort von der Idee angetan, eine Ausstellung mit Katalog für die Sammlung zu entwickelt. Er kannte Holzschnitte und Zeichnungen von Jürgen Wittdorf bereits. Der KVOST hat sich der Gegenwartskunst – insbesondere aus den östlichen Bundesländern und angrenzenden Ländern verschrieben. Das ist ein würdiger Rahmen, den Nachlass Wittdorf zu zeigen. Für unsere Webseite habe ich alle ersteigerten Werke fotografieren lassen. Hier finden sich auf viele weiter Informationen zur Sammlung, der Ausstellung und dem Katalog.

www.sammlung-juergen-wittdorf.de

Jürgen Wittdorf: Lieblinge. Arbeiten von 1952 – 2003
Ausstellung vom 29. August bis 14. November 2020
Eröffnung: 28.08.2020 um 19 Uhr
KVOST – Kunstverein Ost e.V., Leipziger Straße 47
Eingang: Jerusalemer Straße, Berlin-Mitte
Mittwoch – Sonnabend: 14 – 18 Uhr

 Aus dem Zyklus
Vorarbeit für den Zyklus „Tiermütter“, 1965 / Sammlung Jan Linkersdorff /

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