Wahlkampf am 5. März 1933 in der Liebigstraße.
Von Oliver Reschke.
In der Liebigstraße gab es, wie sonst nur in den „rotesten“ Gegenden Berlins, seit Ende der 1920er Jahre stets über 50 Prozent KPD-Wähler. Die Erfolge der KPD in der Liebigstraße sind wohl auf die dort ansässige, besonders rührige KPD-Straßenzelle zurückzuführen. In den 46 Mietshäusern der Straße gab es um die 40 KPD-Mitglieder. Dazu kamen natürlich noch viele Sympathisanten. Führender Kopf der Zelle war Karl Lewke, ein Draufgänger, der für rotes Klima in der Gegend sorgte. Nur ein Jahr nach seinem Eintritt in die KPD wurde er 1928 Politischer Leiter der Liebig-Zelle. Seiner Agitationskunst war es auch zu verdanken, dass der parteilose Kneipeninhaber Max Zehmisch in Lewkes Wohnhaus Nr. 40 sein Lokal seit 1930 den Kommunisten zur Verfügung stellte.
Keine freien Wahlen mehr
Bei den letzten halbwegs freien Reichstagswahlen vom 5. März 1933 trug sich eine dramatische Episode in der Liebigstraße zu. „Halbwegs frei“ bedeutet, dass sich die Nationalsozialisten durch ihre neu gewonnene Machtposition am 30. Januar 1933 Vorteile im Wahlkampf verschafft hatten und andere Parteien, vor allem die KPD im Wahlkampf massiv behinderten. Viele Antifaschisten hatten auf den für die Reichstagsbrandprovokation am 27. Februar vorbereiteten Verhaftungslisten gestanden und waren in Haft, ermordet oder emigriert. Das Lokal „Zehmisch“ war nun polizeilich geschlossen und dessen Gastwirt hatte man die Konzession entzogen. Über den Hintereingang stellte er aber den KPD-Genossen seine Räume weiter zur Verfügung. Ab den frühen Morgenstunden liefen in der gesamten Gegend Doppelstreifen und größere Gruppen Polizei-, SA- und Stahlhelmaufgebot. Berlin machte den Eindruck einer besetzten Stadt. Als Lewke morgens zu Zehmisch runterging, kam gerade ein Genosse vom Wahllokal „Knobel“ im Nebenhaus Nr. 39 zurück, der sich mit Beginn der Wahl wie üblich – formal war die KPD ja noch legal – mit umgehängtem Werbeplakat zum Wahllokal begeben hatte. SA-Leute hatten ihm das Plakat zerrissen und ihm Prügel angedroht, wenn er noch mal erscheinen würde. Lewke erklärte sich bereit, es bis zum Äußersten durchzustehen und wollte als Erster mit einem Plakat hinausgehen. Seine verbleibenden Genossen sollten danach unter sich die Ablösungsfolge beraten. Kaum vor dem Wahllokal „Knobel“ angekommen, pflanzten sich Lewke zwei, von früheren Straßendiskussionen und aus dem nahe gelegenen SA-Lokal „Keglerheim“ in der Petersburger Straße bekannte SA-Männer vor ihm auf, die etwas abseits gewartet haben mussten. Mit vorgehaltener Pistole drohten sie, Lewke abzuknallen, wenn er das Plakat nicht sofort selbst zerreißen würde. An diesem Tag schien strahlend die Sonne und überall schauten die Anwohner von den Balkonen und aus den Fenstern. Dieses ausnutzend, rief Lewke laut, dass er nur vom Recht Gebrauch mache, für eine rechtmäßig auf dem Stimmzettel stehende Partei zu werben. Außerdem sei er völlig unbewaffnet und würde sich auch mit Pistolen nicht von seinem Recht der Agitation für seine Partei abbringen lassen. Derweil verdrückten sich die Plakatträger der anderen Parteien, sogar der uniformierte NSDAP-Mann! Gleichzeitig erhielt Lewke begeisterte Zurufe aus den umliegenden Häusern. Gegen die Nazis indes hagelte es Schimpfworte und Verwünschungen. Verunsichert erklärten diese, sie gäben Lewke durch einen Gang um den Häuserblock noch eine Galgenfrist. Stünde er dann noch immer mit einem Plakat da, würden sie ihn ohne nochmalige Warnung abknallen.
Couragiertes Auftreten
Kaum waren die beiden SA-Männer in Richtung Rigaer Straße verschwunden, kamen aus dem Hausflur von Nr. 40 Lewkes Genossen, etwa 15 bis 20, im Gänsemarsch, um ihn kollektiv abzulösen. Sie verkündeten, von jetzt ab würden alle gleichzeitig stehen und bildeten einen Halbkreis über die ganze Bürgersteigbreite mit Durchlass für die Wähler in der Mitte. Dann wurde das Plakat ununterbrochen von Hand zu Hand weitergereicht. Es war später nicht mehr zu ermitteln, von wem die in der eiligen Debatte geborene Idee stammte. Das hatten die beiden SA-Männer, als sie von ihrem Rundgang zurückkehrten, offensichtlich nicht erwartet. Von Weitem sahen sie verblüfft zu. Lewke und Genossen waren sogar so dreist, durch einen von ihnen, der Bankangestellter und daher besser angezogen war, beim nahe gelegenen 83. Revier in der Zellestraße 10 um Polizeischutz zu bitten. Tatsächlich erschienen am späten Vormittag zwei Polizisten, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite postierten. „Ich brauch nicht zu betonen, daß wir wahrscheinlich eine ganze Menge Glück bei der Sache hatten. Aber überall konnten die Sturmtrupps der Nazis an dem Tag nicht sein, dazu hatten sie in der gesamten Stadt zu viel zu tun“, resümierte Lewke rückblickend. Als das Wahlende gekommen war, riet Lewke allen, zu verschwinden und sich nicht in der eigenen Wohnung aufzuhalten. Mit noch einem weiteren Genossen ging er zu „Knobel“, wo die Nazis gerade die Urne entleerten. Der Wahlvorstand, alle in brauner Uniform, empfing die Kommunisten mit wüsten Drohungen. Lewke blieb jedoch ruhig und entgegnete, sie wollten nur das Wählerrecht anwenden und bei der Auszählung der Stimmen zusehen. Dann bat er die anwesenden Polizisten um Schutz. Als man am Schluss durchzählte, hatten von 1200 Stimmen die KPD ungefähr 500, die SPD ca. 600 und die NSDAP nur 100 erhalten. 1100 Arbeiterstimmen standen also 100 Stimmen für Nazis gegenüber. Beim Verlassen des Auszählungsraumes konnte sich Lewke deshalb die Bemerkung „Mehr wollt ich nicht wissen“ nicht verkneifen. In ganz Friedrichshain kamen die Kommunisten auf 35 Prozent, die SPD auf 22 Prozent und die NSDAP auf 28 Prozent. Anders sah es deutschlandweit aus: NSDAP 43,9 Prozent, SPD 18,3 Prozent. Die Stimmen der KPD, die auf 12,3 Prozent kam, wurden eingezogen und das Vermögen der Partei beschlagnahmt. Im Juni 1933 wurde auch die SPD verboten.