Zu Besuch bei Renate und Hans-Joachim Hellwig.
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Die Hellwigs sind alte Friedrichshainer und können daher auch viel Interessantes über den Bezirk erzählen. Es ist gar nicht einfach, ihre vielen Erinnerungen an lokale Ereignisse und ihre Beobachtungen auf das Zeitzeiger-Format zu beschränken.
Aufgewachsen in der Nähe des Barnimkiezes
Geboren ist Hans-Joachim Hellwig 1935 in der Palisadenstraße 100, in der Nähe des Büschingplatzes, etwa dort, wo heute am Platz der Vereinten Nationen die Kaufhalle steht. Dort wuchs er auch auf. 1946 wurde am kriegszerstörten Büschingplatz der DEFAFilm „Irgendwo in Berlin“ gedreht. Der junge Hans- Joachim sah zusammen mit dem Kinderdarsteller Charles Knetschke beim Drehen der Szene zu, in der der Junge „Willy“ von einem Mauersims abstürzt. In Wirklichkeit ließ er sich auf eine Matratze fallen. Als vor kurzem der Film noch einmal aufgeführt wurde, traf Herr Hellwig den Schauspieler wieder, der Jahrzehnte später als Charles Brauer mit Manfred Krug den Tatortkommissar Peter Brockmöller spielte. Beide erinnerten sich an die schwere Zeit. Brockmöllers Kommentar zu den Erinnerungen Hellwigs an die Dreharbeiten: „Das kann nur jemand wissen, der damals dabei war!“ Seine Lehre begann Herr Hellwig am 17. September 1951 in der enteigneten Werkzeugmaschinenfabrik Gustav Kärger in der Krautstraße 52. „Eigentlich wollte ich Elektriker werden, wie mein Vater. Ich habe gern gebastelt. Aber bei der Berufsberatung haben sie mir gesagt: ‘Du wirst Schlosser!’ Stempel, fertig! So war das damals.“ Im Gegensatz zu vielen seiner Lehrkameraden trat er nicht in die SED-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend ein. Er mochte nicht mit einem FDJ-Hemd herumlaufen. Dafür wurde er von einem der Ausbilder, der sehr linientreu war, geschnitten und schlecht benotet. Dennoch hatte er einen guten Stand in der Firma, auch nach seiner Ausbildung. Das drohte sich im Herbst 1956 nach der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstand zu ändern. Als ein FDJ-Sekretär Geld für die Opfer der „ungarischen Konterrevolution“ sammelte, wies ihn Hellwig und sein Freund und Lehrkamerad Klaus W. mit den Worten ab: „Keinen Pfennig, keinen Heller für Kádárs Folterkeller!“ János Kádár war der von den Sowjets eingesetzte kommunistische Ministerpräsident. Es folgten Aussprachen mit Androhungen. Sein Meister sollte ihm nur noch schlechte Arbeit geben, mit der er weniger Geld verdienen konnte. Doch dieser hielt heimlich zu Hellwig. Sein Ingenieursstudium, das er aufnehmen wollte, durfte er jedoch nun nicht mehr antreten. Wie das Leben in der DDR so spielen konnte, Anfang der 1960er Jahre wurde Hans-Joachim Hellwig viermal hintereinander Sieger im Berufs-Wettbewerb der FDJ für gute Leistungen, obwohl er gar nicht in der FDJ war. „Ich habe sogar noch eine Urkunde, die vom damaligen FDJ-Chef Hans Modrow unterzeichnet wurde. Ich hatte innerhalb eines Jahres fast 50 Verbesserungsvorschläge technischer und konstruktiver Natur gemacht.“
Nichts geschenkt bekommen
Im Juni 1961 begann er dann doch noch sein Studium. „Die Situation änderte sich durch einen Qualitätseinbruch im Betrieb“, erläutert Herr Hellwig. Konstruktive Mängel an den Exportmaschinen führten zu zeitaufwändigen Nacharbeiten. Um den Planrückstand aufzuholen, wurden auch die Gütekontrolleure aufgefordert, Überstunden einzulegen. „Die waren damals noch eine Macht im Betrieb“, erinnert sich Herr Hellwig, „ältere Kollegen, die schon in Rente waren und sagten: ‘Dann hören wir gleich auf zu arbeiten!’“ Auf Vorschlag von drei Endkontrolleuren wurde Herr Hellwig angesprochen und darum gebeten einzuspringen. Als Belohnung wurde ihm auch ein Studium angeboten, allerdings nebenberuflich. Fünf Jahre lang drückte er vier Tage in der Woche nach der Arbeit zusätzlich abends die Schulbank. „Wir wohnten mit Stube und Küche in einer Hinterhofwohnung in der Boxhagener Straße“, erinnert sich Frau Hellwig. „Sonnabends saß mein Mann mit der Lerngruppe im Wohnzimmer und ich ging so lange mit unserem kleinen Sohn spazieren.“ Renate Hellwig wurde in Schmiedeberg im Sudetenland geboren, wuchs nach ihrer Vertreibung und Flucht über die Altmark in Oberwiesenthal im Erzgebirge auf und zog 1958 nach dem Tod ihrer Mutter zu ihrer Schwester an die Weberwiese. Ein Jahr später lernten sich Renate und Hans-Joachim kennen. Renate Schmiedel hatte den Beruf einer Säuglingsschwester gelernt und Anstellung in der neu errichteten Wochenkrippe in der Hildegard-Jadamowitz-Straße gefunden. Später wechselte sie in eine Kinderkrippe in der Fredersdorfer Straße. 1970 zogen die Hellwigs in ihre Neubauwohnung am Franz-Mehring-Platz. Es ist immer wieder erstaunlich zu erfahren, zu welchen Leistungen Angestellte und Arbeiter in DDR-Betrieben in der Lage waren, gerade angesichts der sonst üblichen Schilderungen über Unzulänglichkeiten in der sozialistischen Wirtschaft. 1961 wurden mehrere innerstädtische Betriebsstandorte der Werkzeugmaschinenfabrik und des Schleifmaschinenwerks zum Standort in Marzahn zusammengefasst. „Innerhalb eines Wochenendes zogen damals hunderte Werkzeugmaschinen samt Material an den Stadtrand um. Eine Meisterleistung!“, erklärt Hans- Joachim Hellwig stolz. „Den Begriff Logistik gab es damals noch gar nicht!“
Enttäuschte Hoffnungen
1990 blickten die Hellwigs optimistisch auf die Deutsche Einheit: ‘Jetzt geht’s los mit dem Geldverdienen!’, dachte der Ingenieur in leitender Stellung. Doch konnte der Betrieb unter den neuen Bedingungen nicht mithalten. „Wir wurden in der Fachpresse noch als erste Ostdeutsche gefeiert, die moderne Zusatzausbildungen zum Fachauditor für Qualitätsmanagement absolvierten. Aber es lief nicht.“ Ein Freund, der bei VW arbeitete, bot Unterstützung an. In der Nähe Prags wurde ein neues VW-Werk errichtet. „Mit Deiner Ausbildung bist Du dort genau richtig!“ Die Bedingungen waren nicht einfach: nur alle zwei Wochenenden frei. Aber es sollte ein traumhaftes Gehalt und einen Firmenwagen geben. Doch 1992, als in Jugoslawien der Krieg begann, schloss VW sein Werk in Sarajewo und brachte die leitenden Mitarbeiter in Prag unter. „Seitdem bin ich erwerbslos“, resümiert der 83-Jährige. Renate Hellwig, die viele Jahre in der Verwaltung der Studienausbildung der Charité gearbeitet hatte, ging mit 60 in Rente. Mit Freundinnen trifft sie sich manchmal zum Klöppeln. Da kommen mitunter zwanzig Frauen zusammen, manche haben die Kunst aus ihrer Heimat mitgebracht, andere haben sie dazugelernt. Zwei Kinder haben die Hellwigs großgezogen. Seit vielen Jahren ist Herr Hellwig im Deutschen Senioren-Computerklub in Lichtenberg aktiv, der sich in mehreren Sparten dafür einsetzt, dass auch ältere Menschen mit Computern versiert umgehen können und sogar eine eigene Zeitschrift herausgibt. „Sie sind noch nicht alt genug für uns“, kommentiert Herr Hellwig lachend. Man kann den Hellwigs nur wüschen, dass sie so lange aktiv bleiben.