Nähstuben in Friedrichshain.
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Unmittelbar nach Kriegsende war der Gemeindesaal Memelerstraße 54 (Marchlewskistraße) ein erster Veranstaltungsort im Bezirk. So am 16. Oktober 1945. Ottomar Geschke vom Verband Opfer des Faschismus (ODF) beklagte: „5.680 Kinder leiden im Bezirk unter Hunger. Über die Hälfte besitzt weder wetterfestes Schuhzeug noch ausreichende Unterwäsche. Krätze, Kleiderund Kopfl äuse grassieren, da Seife und Waschmittel fehlen. Schlimmer noch, 268 Kinder sind geschlechtskrank. Der ODF-Hauptausschuß möchte unter dem Motto ‚Rettet die Kinder‘ mit Ämtern, Ausschüssen, Parteien, Gewerkschaften und kirchlichen Hilfsorganisationen eine große Hilfsaktion durchführen. Jedes Kind soll etwas zum Essen, ein warmes Kleidungsstück bekommen. Dazu ein Spielzeug, das nicht den Geist der Zerstörung weckt, sondern den Sinn für ein friedliches Dasein.“ Geschke schloss seine Rede mit: „Die Kinder sind der unschuldigste Teil des deutschen Volkes, der durch ein dunkles, ödes Tal des militaristischen Stumpfsinns getrieben wurde.“
Bekleidungshilfe
Für eine Bekleidungshilfe auf sozialer Grundlage erhielt im August 1945 die Nähstube am Ostbahnhof 500 Kilo Spinnstoffe. Elli Schmidt vom Bezirksfrauenausschuss, der die Nähstube ins Leben rief, sagte bei der Übergabe: „Sie, die Frauen, haben nicht nur Rechte, sondern auch Verpflichtungen.“ Mit fünf Nähmaschinen gingen die sieben Frauen der Nähstube daran, Wäschestücke für die ausgebombte Bevölkerung auszubessern. „Mit heißem Eifer und Musik geht alles besser!“, schrieb ein Journalist und versicherte: „Zu festen einheitlichen Preisen entstehen praktische Bekleidungsstücke verschiedener Art.“
Die Initiative Bekleidungshilfe lief Anfang Oktober 1945 aus. Ihr folgte die Initiative „Rettet die Kinder“. In schneller Folge eröffneten Nähstuben, die der Initiative zuarbeiten sollten, etwa eine in der Mirbachstraße 49 (Bänschstraße), die acht sozial gefährdete junge Frauen beschäftigte. Oder eine in der Pettenkoferstraße 20. 17 Frauen arbeiteten hier, aber nur vier an Maschinen. Diese Nähstube erfüllte Aufträge für die sowjetische Besatzungsmacht. Außerdem fertigte sie Kleidung für Waisenmädchen an. Ihre Stoffe bezog sie aus der Schweiz. Daraufhin rief die KPD ihre Mitglieder zur Spinnstoffsammlung auf und konnte am 19. Oktober 1945 eine große Menge Spinnstoffe an die Nähstuben übergeben. Das Material, das anderswo fehlte, stammte aus ehemaligen Heeresbeständen. Daraufhin verzeichneten einige Nähstuben Einbrüche, Diebstähle, sogar Brandstiftungen. Am 5. November 1945 gab Frau Senftleben (SPD) vom Bezirksfrauenausschuss zu: „Die geplante Massenbescherung wird ein Fiasko erleiden, es wird zu wenig bis gar nichts geliefert!“ Die Bezirksleitung der KPD verkündete jedoch: „Schon am 10. November werden 2.000 Kinder beschenkt!“, und musste am 21. November 1945 eingestehen: „Eine Bescherung von 30.000 Kindern ist nicht möglich!“ Immerhin, die Nähstube Pettenkoferstraße lieferte 300 Kleidungstücke. Sie wurden im Reichsbahnausbesserungswerk Berlin in der Revaler Straße an 350 Kinder verteilt – ein Misserfolg aus Sicht der KPD-Bezirksleitung. Er wurde dem politisch zu gemischten Bezirksfrauenausschuss zugeschrieben. Ein Ausstieg verbot sich, wie aus einem Memo hervor geht: „Gewiss haben wir als Bezirksfrauenausschuss einen Betrag vom 20.000 Mark vom Magistrat zur Verfügung gestellt bekommen, den wir nur als Nähstube der KPD bestimmt nicht bekommen hätten.“
Regsamkeit
Nähstuben, die nicht lieferten wie jene in der Mirbachstraße 49, wurden im Dezember 1946 geschlossen, erfolgreiche wie jene in der Ebertystraße 9 gefördert. Im Juni 1946 erzielte sie trotz einer hohen Monatsmiete von 60 Mark einen Gewinn von 86 Mark. Vier Näherinnen und vier Jugendliche saßen an fünf Nähmaschinen. Die Nähstube in der Liebigstraße 18 lief ebenso sehr gut. Unterstützt von vier Jugendlichen führten drei Näherinnen Flickarbeiten aus. Sechs Nähmaschinen standen im Betrieb, davon gehörten drei den Näherinnen. Wegen einer Privatmaschine loderte in der Nähstube Rüdersdorferstraße 49 ein Konfl ikt auf. Eine der Näherinnen, eine Genossin, arbeitete in der Nähstube Kadiner Straße. Als zwei Maschinen der Rüdersdorfer gestohlen wurden und die anderen defekt waren, sollte sie ihre Maschine zur Verfügung stellen. Die Genossin sagte: „Diese Nähstube hier in der Rüdersdorfer Straße leitet eine CDU-Frau und für mich ist es untragbar, indirekt CDU zu unterstützen. Genossinnen, die hier arbeiten, sollten kündigen.“ Allerdings hatte die Genossin auf Anweisung der Kreisleitung und „im Sinne der Bündnispolitik“ ihre Maschine abzugeben. Zum Ärger vieler Nähstuben, denen Garne, Stecknadeln, Zentimetermaße, Maschinenöl oder Zuschneide-Scheren fehlten, arbeiteten die Stuben von der SED nur für ihre Privatkundschaft.
Finanzen
Am 3. April 1946 war im Bezirksfrauenausschuss die Selbstfinanzierung der Nähstuben ein Thema: „In vielen Fällen ist die Selbstfinanzierung der Nähstuben nur möglich durch eine Unterbezahlung der dort arbeitenden Kräfte. Sie liegt im Allgemeinen bei 1.05 Mark für die Leiterinnen. Der Lohn für die Näherinnen bewegt sich zwischen 0.45 bis 0.65 Mark. Jugendliche bekommen eine Erziehungsbeihilfe von 40 Mark und die Karte III. Deren Arbeitszeit gilt nicht als Lehrzeit, die Innung ist dagegen. Die Nähstuben sind durch unrentable Flick- und Ausbesserungsarbeiten überlastet. Die Kosten für das mühsame und zeitraubende Instandsetzen der sehr beschädigten Gegenstände liegen sehr hoch.“
Schließung
Mit der Auflösung der Frauenausschüsse im Westteil im März 1947 wurden auch deren Nähstuben aufgelöst. Zwar ging die Arbeit der Frauenausschüsse in den Ostbezirken weiter, die im Laufe des Jahres 1947 von großen Betrieben oder von der Volkssolidarität übernommen wurden. Mindestens 200 Nähstuben richteten die Frauenausschüsse in ganz Berlin ein. Allein zwölf in Friedrichshain. Laut einer Schätzung wurden mindestens 82.000 kostengünstige Kleidungsstücke genäht. Die Motivation der in den Nähstuben Beschäftigten war, sich abseits der allgegenwärtigen Schwarzmarktgeschäfte eine reelle Existenz zu erarbeiten.