Der Ostbahnhof.
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Man sieht es dem offensichtlich lieblos am Leben und in Betrieb gehaltenen Bahnhof nicht an, dass er einst von höchstem kulturgeschichtlichen Rang nicht nur für Friedrichshain und Berlin, sondern für das ganze aufstrebende Kaiserreich und die in der Zeit nachfolgenden Staaten gewesen war. Das Viertel um den Ostbahnhof ist heruntergekommen, nichts lädt hier zum Verweilen ein. Dies war einmal ganz anders.
„Asien beginnt am Schlesischen Bahnhof!“, postulierte der deutsche Militärattaché in Moskau 1931. Und er hatte recht: „Von hier aus erstreckt sich eine weite, unendliche Ebene bis Wladiwostok, die nur vom Ural unterbrochen wird.“ Dieses Gebäude verband Kontinente – nicht nur nach Osten.
Große logistische Leistungen
Für 650,- Reichsmark konnte man sich 1927 am Bahnhofsschalter ein Fahrscheinheft nach Tokio kaufen, über Breslau und Wien fuhr man nach Konstantinopel und Istanbul. Heute wirft sich die Deutsche Bahn für einen popligen Sonderzug nach Breslau in die Brust. Die Reisezeit dauert knapp fünf Stunden – vor hundert Jahren waren es vier!
Ende der 1930er Jahre fuhren hier täglich 176 Züge ab. Wer vom Balkan oder aus anderen Ländern des riesigen, vor hundert Jahren untergegangenen österreich-ungarischen Habsburgerreiches nach Amerika wollte, musste auf dem Weg nach Hamburg durch diesen Bahnhof fahren. Seit Eröffnung der Berliner Stadtbahn ab 1882 nahmen Hunderttausende, wahrscheinlich sogar Millionen von Menschen, Kroaten, Bosnier, Ungarn, Böhmen, Mähren, Schlesier, Galizier, aber auch Sachsen und viele andere diesen Weg.
Für etliche war hier Endstation: Geschäftsleute, Staatsbeamte, Soldaten, die ein Auftrag in diese Gegend führte, aber auch für Menschen, die dem Elend ihrer Heimat entflohen, Handwerker, Arbeiter, Glücksritter. Wie eine riesige Injektionsnadel spülte die Bahn Menschenströme in die Stadt und führte sie wieder hinaus.
Frankfurter Bahnhof – zwischen Gärten
Ähnlich wie bei anderen Berliner Kopfbahnhöfen war beim ersten Entwurf 1836 vorgesehen, das Gebäude dicht am entsprechendem Tor, dem Frankfurter Tor, zu errichten. Doch hörte damals die Stadt noch am Alexanderlatz auf.
So entstand das erste Bahnhofsgebäude des Frankfurter Bahnhofs nach 1840 etwas südlicher der heutigen Stelle, wo es der bebauten Stadt zwar näher, aber noch inmitten der Grünanlagen und Beete von Gartenbaubetrieben lag. Entworfen wurde der Bahnhof von Carl Friedrich Zimpel, der in Amerika das Eisenbahnbauwesen studiert hatte. Seine Ausschreibungen für Schienen konnten in Preußen, wo man erst 1842 Schienen zu walzen verstand, nicht bedient werden. Diese kamen kostengünstig aus England, wo sich die Wälzereien bereits in eine Überproduktion hineingearbeitet hatten. Ein „Handbuch für Geschäfts-, Lust-, und Badereisende“ lobte 1843 die „geschmacksvollsten Bauanlagen und zweckmäßigste Einrichtung.“ 174 Jahre Tourismus in Friedrichshain!
Schlesischer Bahnhof
In den Endsiebzigerjahren begannen die ersten Wohnhäuser nach dem Hobrecht-Plan zu wachsen. Innerhalb weniger Jahre versteinerte eine weite Fläche von mehreren Quadratkilometern rings um Berlin, vor allem im Osten. Jetzt wurde der Bahnhof urbane Gegend mit repräsentativen Plätzen, breiten, langen Straßen und düsteren Hinterhöfen, wo sich Gewerbe aber auch das Stadtelend ansiedelte.
1881 wurde der Frankfurter Bahnhof in Schlesischer Bahnhof umbenannt, im Volksmund hieß er auch „Katholischer Bahnhof“, weil katholische Schlesier abstiegen. In der Hauptstadt des protestantischen Preußen begann man wieder große katholische Kirchen zu errichten – für manche ein unerhörter Vorgang. Bremser gab es schon immer. Doch die Gegend des Bahnhofs war interkonfessionell: jüdische, katholische und evangelische Hilfsvereine waren hier angesiedelt, und es war auch international: eine polnische Community existierte und es gab sogar ein kleines China-Town, ein chinesisches Lokal an der Ecke Krautstraße, Lange Straße, das eine Gruppe von etwa 200 Chinesen versorgte. Man sieht es der Gegend längst nicht mehr an, dass hier einst ein quirliges Geschäftsleben mit zahlreichen Handwerksbetrieben, Geschäften und Lokalen herrschte.
Drei-Groschen-Bahnhof
In den Hinterhöfen hinter den gutbürgerlichen Fassaden und den guten Restaurants am Küstriner Platz, wo bis 1882 der alte Ostbahnhof stand, und hinter den Gebäuden anderer Straßen lebten nicht nur kleine Handwerker und Arbeiter, sondern vegetierten auch zahlreiche Gestrandete, Kleinkriminelle, Trickbetrüger, Prostituierte, die um den Bahnhof ihr Glück suchten. Die Gegend war ein Sammelsurium an Menschen und Möglichkeiten.
Furchtbare Verbrechen ereignete sich hier, wie die Frauenmorde von Karl Großmann in den Jahren 1918-21 oder die Straßenschlacht 1928 zwischen kriminellen Ringvereinen und Hamburger Handwerksgenossen, bei denen 60 Schüsse fielen. Die Presse zeterte: „Klein-Chicago!“
Dabei gab es auch bürgerliches Engagement und eine organisierte Selbsthilfe, Grundlagen der modernen Zivilgesellschaft. Frauenvereine und Bahnhofsmission begleiteten junge Mädchen, die schnell Opfer von falschen Versprechen wurden und informieren sie über ihre Möglichkeiten in der Stadt, die jährlich nicht weniger als 40.000 Dienstmädchen benötigte. 1911 ließ sich eine Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost in der Bahnhofsgegend nieder und begann qualifizierte statistische soziologische Studien vorzunehmen.
Nazidiktatur und Zweiter Weltkrieg setzten dem turbulenten Leben ein Ende und legten das Viertel in Schutt und Asche. Wie es heißt, ließ Stalin für seine Reise nach Berlin bis zum Schlesischen Bahnhof eine dritte Schiene verlegen, damit die russischen Waggons von Moskau aus durchfahren konnten.
Ein Schattendasein
1950 wurde der Schlesische Bahnhof in Ostbahnhof umbenannt. Nach 1970 erhielt die Gegend um den Bahnhof mit der Neubebauung ihr heutiges Gesicht. Mitte der 1980er Jahre wurde der Ostbahnhof ausgebaut und in Hauptbahnhof umbenannt. Die Gegend sollte wieder aufgewertet werden, was jedoch nicht gelang.
Nach Revolution und Wiedervereinigung erwachten Bahnhof und Umgebung nicht wieder aus ihrem Dornröschenschlaf. Aus Hauptbahnhof wurde wieder Ostbahnhof. Für die Deutsche Bahn scheint der Beitritt der osteuropäischen Länder zur EU offenbar nie stattgefunden zu haben. Der Bahnhofsbetrieb verläuft zumindest weit unter dem, was möglich und umweltpolitisch notwendig ist.