Zeitenwechsel in Friedrichshain.
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Gute Ideen lagen auf dem Tisch und wurden wertgeschätzt. „Die vorgelegte Arbeit behandelt ein außerordentlich wichtiges Problem bei der Erschließung neuer Quellen für die Erhöhung der Arbeitsproduktivität in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Die Art und Weise, wie dieses Problem abgehandelt wird, hat grundlegende Bedeutung für die Entwicklung schöpferischer Arbeitstätigkeiten im gesamten gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß.“ So urteilte Professor Hiebsch von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena am 20. Mai 1976, als er das Manuskript von Rudolf Bahros Doktorarbeit las und ergänzte begeistert: „Die Untersuchung geht von Widersprüchen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung zwischen der alten Arbeitsteilung und den Zielforderungen beim Übergang zum Kommunismus aus, befaßt sich mit der Stimulierung schöpferischer Initiativen unter dem Aspekt der subjektiven Motivation, die in richtiger Weise zum Angelpunkt der Überlegungen gemacht wird. Damit sind allgemeine Vorschläge für strukturelle Veränderungen in der sozialistischen Industrie und vor allem für die notwendige ideologische Arbeit verbunden.“ Das MfS war weniger begeistert und ließ das Gutachten in ihren Akten verschwinden. Kopien von Bahros Dissertation wanderten von Lichtenberg aus nach Friedrichshain, fanden nicht nur in oppositionellen Kreisen Beachtung. Im Herbst 1977 im Westen als „Die Alternative“ veröffentlicht, lösten Bahros Gedanken diverse Diskussionsrunden aus und hatten einen Anteil bei der Gründung der grün-alternativen Partei.
Viele Perspektiven
Wegen der starken Exportabhängigkeit waren „strukturelle Veränderungen in der sozialistischen Industrie“, wie beim VEB Fortschritt Oberbekleidung, dessen Produktionsstandort für Damenoberbekleidung in der Grünberger Straße lag, dringend notwendig. „Die BRD-Konzerne beanstandeten, daß durch die Bekleidungsindustrie der DDR hauptsächlich nur Standarderzeugnisse angeboten werden.“ Dies war auf Leitungssitzungen zu hören. Im November 1985 machte das Stichwort „Rechnergestützte RGW-Graduation“ die Runde. Gemeint war der Computergestützte Entwurf und Zuschnitt. Hiermit wäre eine schnelle, den Bedürfnissen angepasste Produktion von Konfektion möglich geworden. Die westdeutsche Firma Melcher stellte im Frühjahr 1985 im Internationalen Handelszentrum Berlin eine Demonstrationsanlage auf. Das „Zentrum für Forschung und Technologie“ konnte innerhalb von sechs Wochen die Software analysieren, eine eigene Variante entwickeln und auf dieser Anlage testen. Ziel war, diese Software in die sozialistischen Länder zu verkaufen. Generaldirektor Kempf vom Oberbekleidungskombinat vereinbarte mit Firma Melcher, interaktive grafische Bildschirme von HP, Wechselplattenspeicher von IBM, elektronische Zeichentische von Aristo und Lectra, alles Komponenten, die unter strengstem Embargo standen, über die Niederländische Firma Mebama als Zwischenhändler in das Kombinat zu holen. Neun dieser Anlagen, eine in der Grünberger Straße, sollten ab 1989 „wirksam werden“.
Wenig Perspektiven
Ende Januar 1988 erhielt IM „Victor“ den Auftrag, 15 zuverlässige Genossen aus dem Kombinat für eine Sonderaktion abzustellen. Sie hatten in den Lagern der Staatsreserve eine Umetikettierung von Kinderhosen vorzunehmen. Um deren Preise von 80 bis 100 DDR-Mark zu rechtfertigen, sollten sie über spezielle Etiketten als Importe aus dem Westen deklariert werden. Einfacher sollte es über einen Vertrag mit der Firma Hugo Boss werden. IM „Victor“ war am 17. Februar 1988 in Verhandlungen mit dem Ziel eingebunden, fünf Jahre lang über eine halbe Million Konfektionsteile pro Jahr für die Firma Boss in der DDR zu produzieren. Firma Boss sicherte zu, alles, vom Nähfaden bis zu den Maschinen dem VEB zur Verfügung zu stellen. Für Anfang 1991 war der Produktionsbeginn geplant. Doch die „Widersprüche der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung“, ließen alle Pläne platzen. Es fehlten wichtige Computerkomponenten, die Bürokratie mischte sich ein. Generaldirektor Kempf focht das alles nicht an. Er lud Gäste auf sein 1400 Quadratmeter großes Grundstück ein, wo der Sonnenschirm von Langnese auf der Wiese stand, das Sahnespray von Oetker kam, und die Abbrennpistole für die Holzkohle von Black & Decker.
Aktive Perspektiven
Im Westen wurden die Gedanken Rudolf Bahros schnell zur Geschichte, in der DDR blieben sie lebendig. Als es hieß: „Stasi in die Produktion“ brummte mancher leise: „Aba nich in meene Abteilung!“. So bat der „Runde Tisch Berlin“ am 8. Januar 1990, das „Amt für Nationale Sicherheit“ aufzulösen, dessen KFZ- und Telefonkapazitäten dem Gesundheitswesen zur Verfügung zu stellen und forderte am 23. Februar 1990: „bei der Bereitstellung von Räumlichkeiten sind gemeinnützige Projekte bevorzugt zu unterstützen.“ Einige Kunstund Kulturaktiven nahmen diese Forderung ernst. Sie besetzten leerstehende Räume in der Eldenaer Straße 7. Ein Kommunikationstreff sollte hier entstehen, frei von jeder Bevormundung, ganz im Geiste einer „Stimulierung schöpferischer Initiativen unter dem Aspekt der subjektiven Motivation“. Der Runde Tisch Friedrichshain sagte zu, die Initiativgruppe „Kietzkultur” wurde aktiv, es dauerte einige Zeit, doch dann kamen Verträge zustande, die Arbeit konnte beginnen.
„Dieses Geschäft bringt zwar keinen Gewinn, macht aber Spaß,” hing über dem Eingang des Ateliers „Feelgood“, ebenfalls in der Eldenaer Straße gelegen. Junge Modegestalter vom VEB Oberbekleidung wollten sich gegen Quelle, Neckermann, Otto und wie sie alle hießen, den einstigen Kunden des VEB, mit frischer und anspruchsvoller Designermode zu günstigen Preisen durchsetzen. Auf der Modemesse in Florenz, der Berliner Modemesse oder der Münchener Modewoche, erregte „Feelgood“ Aufsehen. Doch für die wirklich wichtigen Messen trudelten keine Einladungen ein. Zwar breitete sich im Herbst unter den Modemachern wie unter den Kiezladenbesetzern zunächst die Meinung aus: „Das ist der Trend im Osten für Frühjahr/Sommer 1991″, doch davon unterkriegen lassen wollte sich niemand.