Antje Zimmermann, Geschäftsleiterin der Stadtführungsagentur Crossroads.
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Eine Geschichte muss gut sein. Selbst wenn sie hundertprozentig korrekt erzählt wird, nützt es nichts, wenn sie langweilt. Dann interessiert sie keinen. Dies ist eine ständige Herausforderung für Historiker, Journalisten und eben auch Stadtführer. Es verführt mitunter dazu, es mit der Korrektheit nicht so genau zu nehmen, damit die Geschichte passt, besonders dann, wenn es am notwendigen Wissen fehlt.
Jeder erzählt was ihm einfällt?
„Einmal sah ich einen Stadtführer vor der Zionskirche, dessen Leute neugierig in das offene Tor hineinschauten. Doch weil er offenbar nichts dazu erklären konnte, sagte er: ‚Ja und diese Kirche hier ist ja ohnehin schon längst geschlossen!‘ – und zog weiter.“ Antje Zimmermann, schlank, mittelgroß, kurzes blondes Haar, Geschäftsführerin der Stadtführungsagentur „Crossroads“, steht die Empörung darüber ins Gesicht geschrieben, als sie davon erzählt. „Stell dir das mal vor. Das bei einer der regsten Kirchengemeinden in Mitte!“ Erstaunlich, wie sie die eigenen Worte mit einem Blick zu unterstreichen vermag. Ein ähnliches Erlebnis hatte sie auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. „Das war Promi-Hopping von Grab zu Grab. Aber darüber, dass wir auf einem Gottesacker standen, wurde kein Wort verloren.“
Seit 2011 gibt es Crossroads. Eine Führungsagentur, die auf Zwischentöne setzt und zum Denken anregen will: „Berlin mit anderen Augen.“ Vor drei Jahren zog Antje Zimmermann mit ihrem Büro nach Friedrichshain in den postmodernen Bürokomplex am ehemaligen Chor der Auferstehungskirche in der Pufendorfstraße. „Meine erste Berliner Wohnung lag übrigens auch in Friedrichshain“, fügt sie hinzu. „Anfang der Neunziger im Rudolfkiez. Hinterhaus, ein Zimmer, Ofenheizung, Klo auf halber Treppe, so wie damals üblich.“
Mehrere Berufe gelernt
Wir sitzen am Rande des Hafenfestes am Historischen Hafen Mitte, wo Antje mit einigen Mitarbeitern Schnupperführungen anbietet und Werbung für Crossroads macht. Immer wieder unterbricht sie das Gespräch, um Neugierige zu ermutigen, Flyer einzustecken und um auf die Führungsagentur hinzuweisen. Ein kleiner Junge mit eisverschmiertem Mund drückt sich an seine Mutter. „Na, wie alt bist du denn? Bist du schon im Kindergarten? Hast du schon Freunde gefunden?“ Der Junge antwortet ohne zu zögern. Würde ich fragen, er würde sich sofort verdrücken. „Da kommt die Erzieherin durch“, kommentiert Antje lächelnd.
Geschäftsführerin ist kein Lehrberuf. Auch Antje Zimmermanns beruflicher Weg verlief nicht geradlinig. „Ich komme aus Ludwigslust. Weil ich kein Abitur machen durfte, wurde ich Krippenerziehrein und arbeitete dann bei der Diakonie.“ Die Möglichkeiten, die sich den Ostdeutschen ab 1989 boten, verschafften ihr einen beruflichen Neustart. Viele wirtschaftliche Existenzen in Ostdeutschland erwiesen sich als nicht überlebensfähig, beziehungsweise wurden dazu deklariert. „Meine Krippenausbildung war auf einmal nicht mehr anerkannt. Und ich wollte mich für diesen Beruf nicht noch einmal auf die Schulbank setzen.“ Sie wollte studieren, und weil dies ohne Abitur damals nur in Berlin möglich war, zog sie hierher, legte ein Teilabitur ab und studierte an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Museumskunde. „Das heißt, zuerst bekamen wir unser Kind“, korrigiert sie sich. Wie bei vielen anderen Absolventen der Geisteswissenschaften kam danach erst einmal eine Phase der Arbeitslosigkeit und kleinen Jobs, bis sie die Pressearbeit am Berliner Dom übernahm. Keine einfache Aufgabe. Der Dom ist nicht nur eines der mächtigsten Gebäude der Stadt, ein Besuchermagnet und ein einmaliger Kunstort, er ist auch eng mit der protestantischen Kirchenpolitik der Hauptstadt verwoben – Stein gewordene protestantische Kirchenhierarchie von seinen ersten Tagen an.
Auch die Gegenwart ist wichtig
Die Geschichte von Crossroads wiederum nimmt ihren Anfang in Köln am Rhein. Dort existiert seit März 1989 die AntoniterCityTours, eine alternative Stadtführungsagentur, als Teil der Stadtarbeit der evangelischen Antonitergemeinde. Von dort brachte Bertold Höcker diese Idee mit, als er 2009 in Berlin-Mitte als Superintendent eingesetzt wurde.
„Zweifellos gibt es auch in Berlin gute Stadtführer, die Kirche hervorragend erklären können und ihre Rolle in der Geschichte kritisch zu würdigen wissen. Aber warum lassen wir uns das als Kirche aus der Hand nehmen?“ Eine Stelle wurde ausgeschrieben. Antje hatte nach zehn Jahren Berliner Dom Lust auf etwas Neues und warf ihren Hut in den Ring – mit Erfolg.
„Ich sollte einfach loslegen“, berichtet Antje, die über Ihren Chef nicht klagen kann. „Bertold Höcker sagte mir: ,Die Richtung stimmt, dann gehen Sie mal los. Das ist schon richtig so.‘“
Sind denn die Inhalte der Führungen besonders christlich? Antje denkt einen Moment nach. „Natürlich vertreten wir als Kirche auch Werte“, erklärt sie. „Doch es geht keineswegs darum, Leute für den Glauben oder gar für die evangelische Kirche zu gewinnen.“ Es geht darum, Sensibilität für wichtige Teile der Berliner Geschichte zu entwickeln, die andere Stadtführungen nicht im Programm haben. „Vor allem aber wollen wir auch einen wichtigen Teil der Gegenwart unserer Stadt erklären.“ Das hängt auch mit dem besonderen Interesse des Kundenkreises zusammen. „Unsere Teilnehmenden interessiert nicht nur die Geschichte der Kirchen, sondern sie fragen auch danach, was die Gemeinden heute machen.“
Aus diesem Grund bietet Crossroads auch interkonfessionelle Führungen durch Kreuzberg und Neukölln durch Muslime an. „Und auf dem Friedhof am Halleschen Tor gehen wir natürlich auch zu Chamissos Grab. Aber wir besuchen ebenso den Gedenkort, wo den verstorbenen Obdachlosen aus Berlin ein würdiges Begräbnis gegeben wird.“ Auch die Ärmsten sind Teil dieser Stadt.
Friedrichshain ist mit seiner Arbeiter- und Revolutionsgeschichte vertreten. Eine gern gebuchte Führung in diesem Stadtteil führt unter dem Namen „Beten und Bier“ an Kirchen, Friedhöfen und ehemaligen Brauereien entlang. Auch Stralau gehört zum Angebot. Wichtig ist, die Stadt in ihrer Vielfältigkeit zu erschließen. Und genau das steckt hinter dem Motto: „Berlin mit anderen Augen“. „Das trifft auch für mich zu“, erläutert Antje Zimmermann. „Seit ich diese Agentur leite, sehe auch ich Berlin mit ganz anderen Augen.“ Dies geht offenbar auch Menschen so, die nicht religiös sind. Mehr als die Hälfte der von Crossroads geführten Gruppen im letzten Jahr hatten keinen kirchlichen Hintergrund.
Besondere Mitarbeiter
Sind die Stadtführer von Crossroads anders als andere Stadtführer? „Ja, auf jeden Fall“, antwortet Antje Zimmermann prompt. „Die starke Identifikation der Stadtführer mit Crossroads, ihr Zusammenhalt und ihr großes Interesse, sich miteinander auszutauschen, das ist etwas ganz Besonderes.“ Es gibt mehrere Treffen der Stadtführer, oft auch untereinander, ohne die Geschäftsführerin. „Unser gemeinsames Sommerfest gehört zu den schönsten Terminen im Jahr“, sagt sie. Zusammen kommen dann junge Menschen und Rentner, Künstler, Wissenschaftler, Studenten, Leute aller möglicher Konfessionen und Lebenserfahrungen. „Eine schöne Runde. Im Gegenzug biete ich auch faire Preise, als Grundlage für qualitätsvolle Führung.“ Es gibt Agenturen mit Knebelverträgen, in denen die Stadtführer sofort rausfliegen, wenn sie mal einen Termin nicht wahrnehmen können. „Mir ist auch wichtig, unsere Stadtführer über die Teilnehmenden zu informieren, damit sie wissen, was sie erwartet.“ Antje fragt die Kunden, wo sie herkommen, welchen Kenntnisstand sie haben oder ob es besondere Wünsche gibt. Andere Agenturen stoßen ihre Leute ins kalte Wasser. Die erfahren dann erst am Treffpunkt, was sie für eine Gruppe führen.
Letztes Jahr organisierte Crossroads 28 öffentliche Führung mit 306 Teilnehmenden und es gab 152 gebuchte Gruppenführungen mit insgesamt 3.418 Kunden. Mehr als die Hälfte aller Teilnehmer kamen aus Berlin. Ein Drittel waren im Kinder- und Jugendalter. Ein wichtiger Teil davon sind Konfirmandenfahrten. Nicht immer haben die Schüler das drauf, was die Lehrer angeben. „Bei einer Führung, in der die Friedliche Revolution eine wichtige Rolle spielte, sagten mir die Schüler, dass das Thema DDR in der 9. Klasse rankomme und da wäre Geschichte immer ausgefallen. Die wussten gar nichts und ich musste mit Grundlagen beginnen.“
Lohnt denn das Geschäft, will ich wissen. „Die Einnahmen sind gestiegen, und übersteigen längst die Honorare. Aber um mein Gehalt abzudecken, dafür reicht es noch nicht“, so die Geschäftsführerin. „Und würden sie es, dann wäre es so viel Arbeit, die ich allein nie bewältigen könnte.“ „Bildung ist doch immer ein Zuschussgeschäft“, kontere ich, worauf Antje auflacht: „Kannst du das vielleicht noch mal vor der Synode sagen?“ Die Synode ist das Kirchenparlament, das im Herbst über zukünftige Zuwendungen an die Stadtführungsagentur entscheidet. Nicht alle dort sehen die Ausgaben dafür als originäre Kirchenarbeit an. „Doch sind die Kunden sehr dankbar, manche bedanken sich sogar überschwänglich. Ich bitte immer um ein Feedback.“
Als wir die Flyer zusammenräumen frage ich Antje, ob sich der Stand am Hafenfest gelohnt hat. „Ja“, erwidert sie prompt. „Unsere Schnupperführungen wurden gut angenommen. Viele Leute aus der Gegend waren dabei und sie waren ganz überrascht, dass sie noch Neues aus ihrem Kiez erfuhren.
So lange es genug Menschen mit dieser Neugier gibt, werden solche Führungsagenturen wie Crossroads gebraucht.