Damenoberbekleidung in Friedrichshain – der VEB Fortschritt
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In alten Zeiten wurden Berliner Grundstücke nach ihrer Breite an den Straßen parzelliert. Eine Folge waren Mietshäuser mit Hinterhöfen, Gewerbehöfe – Fabrikationsräume zur Miete – eine andere. In der Grünberger Straße 54 beherbergt heute ein solcher Gewerbehof das „All In Hostel“ mit Wii-Konsole und Billardtisch. Nicht nur denjenigen, die hier Ball gegen Bälle stoßen, dürfte Clara Kühn unbekannt sein.
Sie war seit November 1948 Werkstattleiterin im Lichtenberger „Bekleidungswerk Fortschritt“. Es entstand aus der Fusion von acht Konfektionsunternehmen, beschäftigte 3.714 Mitarbeiter und produzierte Herrenkleidung. Nur die kleine Abteilung von Clara Kühn nicht. Dank ihrer Tatkraft nähten hier 300 Kolleginnen Damenkleider. Zu dem Zeitpunkt gab es in Ostberlin keinen Betrieb für Damenoberkleidung. Der Gewerbehof Grünberger Straße 54 schien geeignet, die Abteilung von Clara Kühn zur künftigen Großproduktion von Damenkleidung aufzunehmen. Schon im Februar 1949 konnten im Friedrichstadtpalast 100 neue Kleidermodelle vorgestellt werden. Damals hieß das Geheimnis vieler Neuschöpfungen „gewendet“. Vom Fenstervorhang zum Abendkleid, vom alten Mantel zum neuen Sakko wurde mangels Materials aus Alt Neu gemacht. Gegen unbrauchbare Kollektionen und eine niveaulose Gleichmacherei von Kleidung sollte 1950 der „Berliner Modeausschuss“, eine Arbeitsgemeinschaft von Institutionen der Ostberliner Textilindustrie, ein Zeichen setzen. Allerdings lagen die Preise für wirklich neue Kleider im Februar 1950 bei kaum bezahlbaren 90,– bis 150,– Mark.
Wenig Raum für Neues
1952 standen in der Grünberger Straße 54 vom Magistrat finanziell und organisatorisch unterstützt, etwa 1.000 Arbeitskräfte in der Produktion, davon 90% Frauen. Wegen Platzmangels mussten viele Kolleginnen von Clara Kühn im feuchten Keller arbeiten. Neben dem Materiallager war dort auch das wichtige „Fertigwarenlager“, in dem sich 12.500 Bekleidungsstücke (Kleider, Blusen, Röcke) aus Überplanbeständen stapelten. Von der sowjetischen „Rasno“-Handelsgesellschaft als II.Wahl abgewiesen, sollten sie in den regionalen Handel kommen. Die unzulängliche Technik im Betrieb konterkarierte häufig „sozialistische Rationalisierungen“. Mitunter hatte eine Näherin 14mal an einem Tag ihre Maschine auf eine andere Farbe umzuwechseln, eine andere in drei Tagen 22mal den Steppfuß zu tauschen. Das führte zu Normuntererfüllung und damit zu Lohnausfällen. Alles das waren Gründe für die hohe Fluktuation und die Abwanderung der Belegschaft, deren Zahl 1958 bei nur noch bei 847 lag.
Produktion auf Befehl
Das DDR-Recht auf Arbeit bedeutete Arbeitspflicht und galt auch für Strafgefangene. 1952 schloss der VEB Fortschritt einen Vertrag mit der Frauenstrafanstalt Barnimstraße. 1953 wurden hier Arbeitskittel, Jacken, Hosen und Schürzen im Wert von 20.066,32 Mark angefertigt, was etwa einem Fünftel der von Berliner Gefängnisarbeitern erbrachten Betriebsgewinne entsprach.
Um die Planauflagen des VEB erfüllen zu können, lieferte dieser eine Zuschneidemaschine, Motoren zur Elektrifizierung von 24 Nähmaschinen und Antriebsriemen in die Haftanstalt. Im 2. Quartal 1955 leitete die Werksleitung einen Leistungswettbewerb zwischen den in der Haft eingerichteten Bändern ein. Dabei wurde die Arbeitsleistung jeder einzelnen Strafgefangenen erfasst und die durchschnittliche Normerfüllung auf 148% erhöht. „Gute erzieherische Maßnahmen“, im Sinne einer „entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“, sollten über „persönliche Konten“ zur Materialeinsparung erzielt werden. „Normuntererfüllung“ oder Arbeitsverweigerung hatte Nahrungsentzug oder Isolationshaft zur Folge. Eine zweite Schicht diente der Steigerung der Arbeitsproduktivität genauso wie eine „Bedingte Strafaussetzung“ nach § 346, die bei gutem Verhalten eine vorzeitige Entlassung zuließ. Dieser Paragraf kam bei „Tätern“ zur Anwendung, die aufgrund „kleinbürgerlicher Anschauungen strafbar wurden“. Dazu gehörten „Grenzgängerinnen“, die vor dem Mauerbau wegen „ungesetzlicher Einfuhr von Gütern“ an der Grenze festgesetzt worden waren.
Nach dem Mauerbau kamen über den § 249 („asoziale Lebensweise“) viele Arbeitskräfte an die Bänder des VEB Fortschritt in der Haftanstalt Barnimstraße. Junge Frauen wurden zur „Arbeitserziehung“ ins Gefängnis eingewiesen, weil sie ein selbstbestimmtes Leben in Bezug auf Kleidung, Beziehungen oder Lebensansichten führen wollten und gegen die wertkonservativen Moralvorstellungen der SED Diktatur verstießen. Weil der § 249 neben der Haftstrafe auch Aufenthaltsbeschränkungen, Kontrollen und „Erziehungsaufsichten“ mit einschloss, wurden zahlreiche Frauen im Zuge von Amnestien in den 1970er und 1980er Jahren direkt vom Knastbetrieb in den zivilen Betrieb „vermittelt“.
Buntes raus, Graues bleibt drin
Ausfuhren gingen über die „Rasno“ Export nach Osten und über den Deutschen Innen- und Außenhandel (DIA) nach Westen, 1960 an die „Inkoop Vereniging Pohoda“ Amsterdam, 1964 an die C&A Brenninkmeijer Benelux und seit den 50er Jahren auch in die Bundesrepublik. Zu den Kunden des VEB Fortschritt gehörten Mitte der 60er Jahre Hertie, Kaufring, Quelle, Schöpflin und viele mehr. Deren Bedingung war: „neutrale Aufmachung, neutrale Anhängeetiketten“. Von 650.000 Damenkleidern gingen 1963 82% in den Export und 18% an die Bevölkerung. 1969 wurden alle Ost-Berliner Konfektionsbetriebe zum „VEB Kombinat Oberbekleidung Berlin“ zusammengefasst, um deren Exportkompetenz zu erhöhen.
Das DDR Modeinstitut beobachtete internationale Entwicklungen und gab im zweijährigen Vorlauf Anregungen für die Saisonfarben der Kollektionen. Angesichts knapper Stoffmengen wurden diese Vorschläge im einjährigen Vorlauf in kleiner Serie gefertigt und auf Berliner Modeschauen präsentiert. Weil nicht nur TGL-Normen und Maßtabellen einzuhalten waren, sondern auch billig und plangerecht produziert werden musste, wurden die Entwürfe nicht 1:1 übernommen. Seit 1972 lag die Planumsetzung in den Händen der Fachabteilung „Bekleidung“ des Amtes für Industrielle Formgestaltung. Deren bürokratische Strukturen – eine Kollektion hatte mehr als zehn Entscheidungsebenen zu durchlaufen – sorgten dafür, dass Kollektionen abseits von Farbempfehlungen und aufwendigen Accessoires in den staatlichen Handel gelangten. Kleine Kollektionen mit besonderen Details verschwanden aus dem HO-Handel. Erfolgreicher als der Berliner Modeausschuss entwarf Prof. Arthur Winter, künstlerischer Leiter der Handelskette „Exquisit“, Kleidung, die sich „jenseits von primitiver Standardisierung“ bewegen sollte. Ein Team von zunächst sechs, später 30 Designern schuf seit 1969 Modelinien, die sich an internationalen Trends orientierten. 1988 erwirtschafteten 300 Exquisit-Läden 25% des Umsatzes im Bekleidungsbinnenhandel.
Exquisit waren auch die Preise, eine Hose ging schon mal für 170 oder mehr Mark über den Ladentisch. „Grau“ war die DDR-Mode als Foto. Aus ökonomischen Gründen durften nur wenige Farbfotos in den Modemagazinen vorkommen. Zudem enthielten Waschmittel wie „Spee“ oder „FeWa“ Anteile von Bleichmitteln und Aufhellern, so dass die Farben beim Waschen verblichen.
1990 verblich auch der Ruhm des Modeinstitutes, und das Kombinat Oberbekleidung wurde mit allen Zweigbetrieben aufgelöst.
Alle Modefotos stammen aus “Die Mode” – Fachzeitschrift vom Modeinstitut der DDR. Zeitraum von 1968 – 1987.