„Uhren sind Erinnerungsstücke.
Die muss man zum Laufen bringen.“
Der Uhrmachermeister Bernd Siebert
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Im September 1980 begann ich mit gerade mal 17 Jahren in der Boxhagener Straße eine zweijährige Lehre beim VEB Service-Zentrum Berlin, aus dessen Namen man schwerlich den Beruf herleiten kann, um den es ging: den des Uhrmachers. Jetzt hatte ich gehofft, irgendwann einmal meine Lehrmeisterin interviewen zu können. Doch wie ich erfahre, ist sie bereits in Rente gegangen. Dafür treffe ich einen anderen Kollegen aus meinem Lehrbetrieb, den Uhrmachermeister Bernd Siebert. Er empfängt mich in seinem Laden mit der Lupe auf der Stirn und behält sie über die ganze Zeit unseres Gesprächs auf. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch er manchmal vergisst sie abzunehmen, wenn er auf die Straße geht – so wie es vielen anderen Kollegen passiert, mich seinerzeit eingeschlossen.
Wie üblich, ist die Klemmfeder der Lupe aus einer alten Weckerfeder zusammen gebastelt. Das erste Werkstück, das wir als Uhrmacherlehrlinge seinerzeit anfertigen mussten.
Ein Hauch früherer Zeiten
Wer den Laden in der Gubener Straße 5 betritt, fühlt sich in eine vergangene Zeit zurückversetzt. Allerdings ist es anders, als man sich ein altes Uhrmachergeschäft vorstellt. Das Mobiliar ist aus den 1970er Jahren, in der die Uhrmacherkunst als fast alltägliche Dienstleistung eine letzte große Blüte erlebte: praktisches kantiges Design in hellem Holzfurnier, neonbeleuchtete Glasschränke und quadratische Schiebekästen, die hunderte von Kundentüten fassen konnten – und gefasst haben. Eine Armbanduhr galt damals nicht nur als Gebrauchsgegenstand, sondern vor allem als Wertstück und wurde, wenn sie nicht mehr lief, repariert. „Die Schübe sind Spezialanfertigungen, die man nicht miteinander vertauschen darf,“ erklärt Meister Siebert. „Die sind zwar in Serie produziert, aber jedes Schubfach wurde für sich angepasst.“ Hinter der Verkaufstheke stapeln sich Kästen, in denen Pendel- und Buffetuhren auf ihre Reparatur oder auf ihre Besitzer warten. Bevor wir miteinander sprechen können, muss er noch ein paar Kunden bedienen, die kurz vor Feierabend den Laden betreten.
Freundlicher Ton
Einer breitet vier Quarzuhren zum Batteriewechsel auf dem Verkaufstisch aus. „Die ganze Kollektion auf einmal!“, kommentiert Meister Siebert belustigt, öffnet die Gehäuse mit geübten Griffen gleich am Werktisch im Laden und ersetzt flink die Batterien, die in der Fachsprache Zellen genannt werden. Eine Uhr muss wegen eines Wasserschadens dableiben. „Eine Maurice“, sagt er zum Kunden, „ein gutes Stück!“ Und wie zur Beruhigung fügt er hinzu: „Kriegen wir wieder hin!“ Es ist dieser offene und freundliche Umgang mit den Kunden, der aus dem Uhrmacherladen etwas Besonderes macht. Einen bittet er nach hinten in die Werkstatt, um ihm eine komplizierte Reparatur an seiner Omega zu erläutern. „In die heiligen Hallen?“, ruft dieser ganz verwundert. „Ja, komm’ se mal!“ Gerade weil sich Bernd Siebert nicht mit einer Aura des Geheimnisvollen und Unnahbaren umgibt, wie manch andere Uhrmacherkollegen, wirkt er sympathisch. Auch nimmt er kein Blatt vor den Mund, wenn es um eine heikle Operation geht: „Vielleicht kann ich das hinbekommen“, sagt er eher zuversichtlich als skeptisch. „Das ist was für einen ruhigen Abend, mit Pinzette und ein bisschen Musik.“ Der Kunde nickt verständnis- und vor allem hoffnungsvoll, denn eine andere Werkstatt wollte seine Uhr für einen unverschämt hohen Preis zum Hersteller einsenden.
Kein Geheimnis ums Handwerk
In der Werkstatt läuft tatsächlich Musik, der Mitschnitt eines Pink-Floyd-Konzerts. Ausgerechnet der Song „Time“. Mit Absicht? Meister Siebert schüttelt belustigt den Kopf. „Der Zusammenhang ist mir noch gar nicht aufgefallen.“ Auch heutzutage verlangt die Arbeit des Uhrmachers mitunter großes Fingerspitzengefühl und ein Höchstmaß an Konzentration. Das ist ein Prozess der Versenkung. Mir eine Lupe in die Hand drückend, erläutert Herr Siebert das Kundengespräch, das er gerade geführt hat, anhand der alten Omega auf seinem Werktisch. Der Fabrikationsname ist ausgesprochen auffällig in die Werkplatine eingraviert und zusätzlich farbig nachgezogen. Doch das Werk kann sich sehen lassen: eine Schraubenunruh mit Breguet-Spirale. Das Richten so einer Unruh-Spirale, dünn wie ein Menschenhaar, gehört in der Tat zur hohen Kunst des Uhrmachers. „Ich habe den ganzen Tag den Laden voller Leute. Vor dem Mittag komme ich gar nicht dazu, was zu reparieren. Die kniffligen Fälle hebe ich mir für die Abende auf.“
Ein schönes Gefühl, mal wieder in einer Uhrmacherwerkstatt zu stehen. Ich lasse meinen Blick über den Werktisch schweifen und entdecke alte Bekannte: auf runden Werkträgern läuft das Werk einer 70.1, das einer Spezimatic, sogar das einer alten 60.1 – Bezeichnungen für hochwertige Glashütte-Kaliber aus der DDR-Produktion.
Service unter planwirtschaftlichen Bedingungen
Mangelwirtschaft ist der Begriff, der bis heute getrommelt wird, wenn es um die Versorgung der DDR-Bewohner geht. Ausgeblendet werden dabei jedoch die vielfältigen Bemühungen um Kunden- und Marktorientierung, die es in der DDR gegeben hat. Das Service-Zentrum Berlin wurde gegründet, weil die wenigen privaten Uhrmacher den Bedarf an Reparaturen in Berlin kaum zufriedenstellen konnten. Es richtete eigene Reparaturwerkstätten und Annahmestellen ein. Eingebunden war dies in ein System, das sich Kontaktring nannte und Verkauf, Kundenbetreuung und -beratung einschließlich Reparaturen in ein- und denselben Geschäften anbot. Dies gewährleistete, dass die Kunden innerhalb von 10 Tagen ihre Uhren gereinigt und repariert zurück erhielten, mit verlässlichen Kosten und Garantieleistungen. Bernd Siebert war am Aufbau dieses Systems maßgeblich mitbeteiligt. In die Lehre ging er bei seinem Vater in Barth in Mecklenburg, als Uhrmacher in der vierten Generation.
Mehr als den Beruf gelernt
„Das fing 1966 an. Ich dachte zuerst, es wird so: Bis um zwölf arbeiten und danach geht’s an den Strand!“ Doch der Vater gebot, dass der Feierabend erst dann ansteht, wenn die Arbeit erledigt ist. Nur selten war dies 16.00 Uhr der Fall, eher drei Stunden später.
Neidvoll blickten manche DDR-Bürger auf den Wartburg eines Uhrmachers. Dass dieser dafür bis spätabends in der Werkstatt Uhren reparierte, sah kaum jemand.
1973 zog Bernd Siebert nach Berlin, weil seine damalige Ehefrau hier arbeitete. „Ich bewarb mich beim Service-Zentrum, begann eine Meister-Ausbildung und übernahm gleichzeitig den ersten Ausbau-Laden in der Voigtstraße 32, um ihn zu einer Annahmestelle auszubauen.“ Aus dieser Zeit stammen die Möbel in seinem Laden – alles handgefertigt. Bernd Siebert beteiligte sich am Aufbau der neun betriebseigenen Annahmestellen und weiterer, die in Kaufhäusern und Verkaufsgeschäften untergebracht waren. Das Jahr 1990 brachte den DDR-Uhrmachern nicht nur ein neues Wirtschaftssystem, sondern eine grundsätzlich andere Einstellung zu Armbanduhren. Billige Uhren, die man wegwirft, wenn sie nicht mehr funktionieren, wurden in der DDR nie angeboten. Selbst Quarzuhren wurden repariert.
Schwierige Zeiten
Plötzlich standen mehr als 200 Uhrmacher in Ostberlin vor der Frage, wie es weiter geht. „Einige sind woanders hin gezogen, zum Beispiel nach Pforzheim oder dorthin, wo es noch Uhrenhersteller gibt. Einen traf ich vor kurzem sogar in Glashütte.“ Herr Siebert rechnet dem Chef der Lehrwerkstatt hoch an, dass er es mit großem Engagement schaffte, den damaligen Lehrlingen in der neuen Zeit einen vollwertigen Berufsabschluss zu ermöglichen.
Auch die Betriebsleitung war bemüht, so viele Mitarbeiter wie möglich unterzubringen. Die Läden wurden mit Einrichtungen für Pauschalpreise verkauft. Zumindest für einen Teil der Uhrmacher schien die Rechnung aufzugehen. „Zuerst kam ein Boom mit dem Verkauf von günstigen Uhren. Der brach aber Mitte der 1990er Jahre ab. Wer sich damals nur auf den Verkauf spezialisiert hatte, war dann verloren.“ Meister Siebert gehörte nicht zu ihnen.
„Ich habe immer Reparaturen angenommen, habe alles gemacht, schon allein, um im Gespräch zu bleiben.“ Schwierig wurde es, als sein angestellter Mitarbeiter krank wurde. „Da musste ich dann plötzlich alles allein machen und bin oft nicht vor halb elf aus dem Laden gekommen.“
Ein treuer Kundenstamm
Ich frage, wie das Geschäft jetzt läuft und Meister Siebert grinst mich an: „Die Lage des Ladens hier kann man getrost als stabilste Seitenlage der Welt bezeichnen!“ Also ist er zufrieden: „Ich bin Rentner, verdiene mir etwas dazu und bin froh, dass es so gut läuft. Ich habe den Ruf, auf Glashütter Kaliber spezialisiert zu sein, nehme aber auch andere.“ Manchmal lohnt sich eine Reparatur gar nicht. „Uhren sind Erinnerungsstücke. Die muss man zum Laufen bringen. Und wenn ich acht Stunden Arbeit in eine hineinstecke!“ Das Geschäft scheint so etwas wie ein Treff geworden zu sein, in dessen Mittelpunkt der Uhrmacher steht. „Der Laden ist nie leer. Zu mir kommen Kinder und Kindeskinder alter Kunden. Manche kommen inzwischen mit Stöckchen und Wägelchen, aber im Kopf läuft es noch rund. Ein bisschen komme ich mir dann vor, wie ein Pastor.“
Berührt hat ihn eine Begebenheit, als ein alter Mann mit Sohn und Enkel in den Laden kam und letzterer sprach: „Ich bekomme die Uhr meines Großvaters und möchte sie noch einmal einer Revision unterziehen.“ Es war eine Glashütter Spezimatic. Bernd Siebert machte vorsichtig darauf aufmerksam, dass dies gewiss nicht ganz billig wird. „Da wenden Sie sich bitte an meinen Großvater.“ Mit diesem hat er dann das Geschäftliche ausgehandelt. Zum Abholen kamen sie wieder zu dritt. „Nicht der Wert der Uhr war das Besondere“, erklärt Meister Siebert, „sondern der Vorgang. Das war ein Familien-Ritual, in dessen Mittelpunkt die Uhr gestanden hat.“ Solche Erlebnisse motivieren natürlich.
Alles schön, möchte man meinen, wenn Meister Siebert nicht der letzte Uhrmacher mit eigenem Laden und Werkstatt in Friedrichshain wäre. Stirbt dieses Handwerk aus? Hoffentlich nicht, denke ich, obwohl ich ja selbst nicht Uhrmacher geblieben bin.
Bin zufälliger Weise auf der Suche nach vorweihnachtlichen Bildern
& stoße nun auf meinen sehr netten Lehrmeister.
Damals 1981/ 82 muß es gewesen sein war ich in der Annahmestelle -Vogtstrasse die zum Berliner Uhrenservice gehörte. (es gab später bis zu 24 Annahmestellen). Für mich war dies etwas besonders unter Bernd Siebert zu arbeiten, denn wir sind zwei sehr starke Charaktere die des öfteren Ihren Willen durchsetzen wollten. Mit Bernd Kurze waren wir ein Dreiergespann
das sich in der recht großen Filialen gegen die restlichen Damen durchzusetzen wußten.
Dort zu arbeiten war etwas besonders und habe mich seinerzeit bei
Bernd Siebert dafür bedankt, denn für mein weiteres Leben war der Start dort sehr hilfreich.
Danke.
Alles Gute weiterhin wünscht Ronald Berg 10.11.2016