Friedrichshain per Passierschein.
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Alexander Abusch war ein Kulturpolitiker mit Missionen. Eine wichtige war: er wollte den DDR-Bürgern vermitteln, „daß der gewaltige Strom des Genius von Shakespeare voll einmündet in unsere Kultur des sozialistischen Humanismus.” Herzlich wenig nutzte Alexander Abusch der Genius von Shakespeare, als ihn „seine“ Partei „zionistischer Umtriebe“ verdächtigte, sogar Erich Mielke ihn im März 1951 zu einer „Aussprache“ vorlud. Vom Mielke als Geheimer Informator (GI Ernst) verpflichtet, denunzierte Abusch fortan etliche Kollegen, darunter Arnold Zweig und Anna Seghers.
Ein Telegramm mit Folgen
Eine andere Mission war sein Telegramm vom Abend des 5. Dezember 1963. Damit Westberliner Ostberlin betreten durften schlug er, als Mitglied des Zentralkomitees der SED, dem Westberliner Senat Verhandlungen für ein Passierscheinabkommen vor. Zeitraum: von Weihnachten bis Silvester 1963/64. Bereits im Oktober 1961 hatte die DDR auf den S-Bahnhöfen Zoo und Westkreuz Schalter für Passierscheine eingerichtet. Diese Initiative löste eine heftige Pressekampagne und Senats-Proteste dagegen aus. Wenig später zeigten die verhaltenen Reaktionen der Alliierten auf Zwischenfälle an der Mauer, dass der Zeitpunkt 1963 günstig für einen Kurs der „Annäherung durch Verständigung“ war, wie es Willy Brandt Ende der 60er Jahre ausgedrückt hatte. Da die DDR einen Vertrag nach internationalem Standard anstrebte, löste das Telegramm von Abusch Aufregung in Bonn und Westberlin aus. Die Logik der Doktrin zur „Nichtanerkennung der DDR“, schloss solche Verhandlungen zunächst aus. Nur sieben Sitzungen genügten, bis der Westberliner Senatsrat Horst Korber und der DDR-Staatssekretär Erich Wendt am 17. Dezember 1963 eine Vereinbarung „zwischen Städten“ unterschrieben.
Eine offizielle „Anerkennung“ wurde damit zwar vermieden, doch war die DDR als Verhandlungspartner akzeptiert. Westberliner, die laut DDR-Verständnis keine BRD-Bürger waren und deshalb vom Besuch Ostberlins ausgeschlossen sein sollten, durften per Sonderstatus ihre Verwandten in der Hauptstadt vom 18. Dezember 1963 bis zum 5. Januar 1964 besuchen. Hunderte Menschen standen in der Nacht zum 18. Dezember 1963 am Übergang der Oberbaumbrücke. Um 4 Uhr morgens eröffnete die Grenzübergangsstelle (GÜST) Oberbaum. Sie war für eine erhebliche Geldsumme aufgebaut worden und blieb bis zur Wende eine der wichtigsten. Bundes- wie Regionalpolitiker ließen sich hier für Fotos gerne sehen.
Soweit möglich, war die Grenze ins Umland von Volkspolizisten in Zivil abgesichert. Überall aus der DDR wurden Freiwillige Helfer der Grenztruppen, der Volkspolizei und der Transportpolizei nach Berlin abkommandiert. Betriebskampfgruppen in Zivil standen, unterstützt von „zuverlässigen Mitarbeitern“ des MfS auf dem S-Bahnhof Warschauer Straße und Ostbahnhof. Wegen der Passierscheinaktion fehlten überall Arbeitskräfte, etwa um Kartoffeln auszuliefern. Während den Rentnern die Kohlenvorräte ausgingen, verhinderte der Personalmangel die Verteilung von Kohlenbezugsscheinen. Konflikte traten im Glaswerk auf: „Ein Genosse stellt die Frage, ob die Befestigung unserer Staatsgrenze nicht ein Hindernis für die Verständigung zwischen den Werktätigen in beiden Teilen Berlins ist“. Die Parteileitung mahnte daraufhin: „Nicht allen Genossen ist völlig klar, daß sie mit jeder operativen Handlung, die im Zusammenhang mit den Westberliner Besuchern steht, unmittelbar Außenpolitik machen“.
Wurst und Tabletten
Angesichts der vollen Schaufenster und dem reichen Lebensmittelangebot entlang der Karl-Marx-Allee waren die Westberliner erstaunt, „daß Bürger der DDR bei vollen Schaufenstern Briefe nach Westberlin senden und um Pakete betteln. Er selbst kann sich nicht so viel Fleisch und Butter leisten, wie die Bürger der DDR“, sagte einer der Besucher einem Journalisten des ND. Doch in Köpenick hätte er sehen können, dass nirgends Weihnachtsgänse aufzutreiben waren. Damit so etwas nicht allzu publik wurde, hatten leitende Offiziere des MfS im Stab des Präsidenten der Volkspolizei Berlin die Aufgabe „Handlungen des Gegners rechtzeitig zu erkennen und Provokationen sowie Feindtätigkeit nicht zuzulassen“. Auf Grund dieser „Aufklärungshandlungen“ kam heraus: die Westberliner gingen in Friedrichshain nicht in die Kneipen, sondern „in die Wohnungen der Verwandten“. Diese Verwandten nutzten die temporär gute Versorgungslage in der Karl-Marx-Allee für „größere Einkäufe besonders an Fleisch- und Wurstwaren“. Westberliner kauften dagegen Spalttabletten. So viele, dass die Apotheke am Ostbahnhof bereits am ersten Tag des Abkommens ausverkauft war. Für Westberliner war die Ostberliner Stadtgrenze ein Tabu. Familien aus den DDR-Bezirken trafen ihre Westberliner Freunde im Tierpark. Offiziell, als Teil der Vereinbarung, waren in den in Westberlin arbeitenden Antragsbüros Ostberliner Postbeamte beschäftigt. In Wirklichkeit saßen hier Volkspolizisten. „Genossen aus Potsdam, die um den „Wimpel Berliner Bär“ kämpften, waren erstaunt darüber, daß sofort sehr hohe Arbeitsleistungen von ihnen verlangt wurden“, berichtete ein Kommandeur. Kollegen des Leutnant der VP, Pasche, führten ihren Kampf mit Kosenamen: denn auf den Anträgen stand statt Klara Klärchen, oder Mini statt Amalie. Leutnant Pasche klagte: „Wegen fehlender Voraussetzungen konnten von den 35 als Schreibkräfte kommandierten Genossen 17 nicht eingesetzt werden“. Nach Büroschluss gingen die Antragsformulare zur „Abstimmung“ an Verbindungsoffiziere des MfS.
Weitere Passierscheinverhandlungen gestalteten sich schwierig, kamen aber dennoch zum Abschluss. Bis 1966/67 erkundeten die Verhandlungspartner ihre jeweiligen innen- wie außenpolitischen Spielräume und stießen dabei an Grenzen. Ein gemeinsamer Verhandlungstext ließ sich nicht mehr aushandeln. Erst mit dem Viermächte-Berlin Abkommen von 1971 gelang der Sowjetunion die De-facto-Anerkennung der DDR im Westen und sie respektierte die enge Bindung West-Berlins an die BRD. Damit war die „Hauptstadt der DDR“ für Westberliner offen.