Das Haus an der Warschauer Brücke, Foto: Hajo Toppius

Das Haus an der Warschauer Brücke – symptomatisch für Friedrichshain

Das Haus an der Warschauer Brücke, Foto: Hajo Toppius
Heutige Ansicht: Ein Fels in der Brandung, ein Schiff im Häusermeer, ein Kommerztempel.
/ Foto: Hajo Toppius /

Marchlewskistraße 111, Ecke Warschauer Straße 32.

von Hajo Toppius / Antje Öklesund.

Direkt zur Warschauer Brücke geneigt steht ein Häuserblock, der wie ein riesiges Schiff aussieht, das aus Friedrichshain herausfährt – mit einer großen Propagandawand als Galionsfigur.
Wenn die Besucher und Bewohner über den kleinen Berg von der Oberbaumbrücke nach Friedrichshain hereinkommen, ist dies Haus das Erste, das ihnen auffällt.
Es ist ein schlichtes, aber sehr präsentes Symbol für den Friedrichshainer Südkiez und steht in den verschiedenen Nutzungen für ein typisches Phänomen des Bezirks: der drängenden Suche nach dem richtigen, nach einem erfüllten Leben. Die Geschichte dieses kleinen Häuserblocks steht für die Geschichte des Bezirkes mit all seinen Verwerfungen, Träumen und katastrophalen Verirrungen.
Baulich bildete das Haus einen Schlusspunkt der Wohnbebauung an der Warschauer Straße. Es wurde 1906/07 errichtet, als die Bebauung der Warschauer Straße zu großen Teilen abgeschlossen war. Auch die Nutzung des Gebäudes war Friedrichshain-typisch. Im gesamten ersten Stock florierte bis zum 2. Weltkrieg das Café „Komet“, das in den 30er Jahren eine Genehmigung zur Erweiterung der Tanzräume beantragte.

Morphium und Dichtkunst

Johannes R. Becher, der spätere DDR-Kulturminister, lebte hier als „Junger Wilder“, als jugendlicher Dichter und Morphinist. Allerdings wohnte er nicht genau hier, sondern im Nachbarhaus. Doch spannenderweise wurde immer wieder behauptet, er hätte hier gelebt – auch von ihm selbst! Becher war in seinen jungen Jahren ein Friedrichshain-Bewohner, wie man ihn auch heute noch antreffen könnte. Ein Suchender, der sein Glück in unterschiedlichen künstlerischen Projekten zu finden hoffte. 1911 war er nach einem gescheiterten Selbstmordversuch in die Hauptstadt geflüchtet. Hier schrieb er Gedichte, gründete einen Verlag und lebte zwischen Morphium und Kreativität vor allem eben auch im Nachbarhaus in der Marchlewskistraße 111, im Café „Komet“. Nachdem sein Berlinprojekt 1914 gescheitert war, ging Becher zurück nach München zu seinen Eltern – und wurde Kommunist.

Plötzlich Stadtrand

In einem Schreiben der Bauaufsicht von 1953 heißt es: „Das Haus wurde durch Kriegseinwirkung nach Schätzung zu 65% stark beschädigt. Brand- und Bombenschäden vernichteten das Dach vollkommen, die Schornsteine wurden bis unter das Dach zerstört.“ Nach dem 2. Weltkrieg folgten ruhigere Zeiten für das Mitte der 1950er Jahre wieder renovierte Haus. Von hier aus hatte man seinerzeit einen noch unverstellten Panoramablick auf die noch offene Grenze an der Oberbaumbrücke. Vorbei mit dem pulsierenden Leben war es, als ab 1961 die Grenze geschlossen war und das Ende der Welt in Sichtweite lag. Am Ort des ehemaligen Café „Komet“ hatte sich das Hotel „Komet“ etabliert. Im Erdgeschoss waren unterschiedliche Nutzer untergekommen: ein Schneider und ein Fotolabor.
Passenderweise ist in einem Gutachten von 1990 über die Zustande einer Wohnung des Hauses folgende Beschreibung zu finden: „Das Objekt befindet sich … in einer nur wenig bewohnten Gegend“.
In den 1990ern blieb es zunächst noch relativ beschaulich, denn richtig wild wurde es erst um 2005.

Aus dem Dornröschenschlaf erwacht

In dieser Zeit steht Friedrichshain und das Haus wieder symptomatisch für eine gesamte Entwicklung. Die großen gesellschaftspolitischen Ideen, die in den Jahrzehnten zuvor propagiert worden waren, rückten in den Hintergrund, zugunsten eines kollektiven Rausches und dem hedonistischen Drang zur Selbstverwirklichung in einer Stadt voller neu entstandener Freiräume. Am Haus strömten jetzt die Touristenmassen vorbei mit ihren Träumen vom Feiern und von einem perfekten Abend.
Wie so viele andere Häuer im Ostteil der Stadt wurde auch das Eckhaus an der Warschauer Brücke verkauft und saniert. Und wie auch in so vielen anderen Häusern entstanden hier Eigentumswohnungen, Büros und Gewerberäume – im Auftrag einer dänischen Immobiliengruppe.

Kommerz als neues Phänomen

2007 zog die neu gegründete vegane Supermarktkette VEGANZ mit Restaurant, Café, Schuhladen und Büros hier ein. Damit hat ein neuer zeitgenössischer Traum hier ein Zuhause gefunden. Die Vorstellungen vom richtigen Leben haben sich vom ideologischen des letzten Jahrhunderts zum hedonistische der Nachwendezeit und nun ins Private verschoben. Es ist Lifestyle geworden, wie Jan Bredack, der Gründer von VEGANZ in einem Gespräch betont: „Unsere Kunden sind zum größten Teil nicht Veganer. Es geht um gesundes, cooles Essen. Es ist ein bisschen hip“.
Auch in der Entwicklung von VEGANZ und seinen Kunden spiegelt sich ein typisches Friedrichshain-Phänomen: die Institutionalisierung und Vermarktung eines subkulturellen Ideals. VEGANZ ist inzwischen eine große Lebensmittelkette, musste Teil-Insovenz anmelden und wird wohl einige Filialen schließen.
Der vegane Lebensstil taugt hier kaum noch als antikapitalistischer Lebensentwurf, was durchaus auch Kritiker auf den Plan treten ließ: „Klar, wir hatten Aufrufe zum kollektiven Klauen, wir hatten Buttersäure, wir hatten eingeschlagene Fensterscheiben“, sagt Bredack.

Eine neue Vision?

Das Haus an der Warschauer Brücke steht mit diesen ganz unterschiedlichen Nutzungen auch für den Versuch, den richtigen Weg zu finden.
Wie schön wäre es, wenn diese prominente Fassade, die wie ein Schiff den Besuchern mit seiner raumgreifenden Fassade entgegenfährt, mal nicht als Fläche für weitere Werbung genutzt würde, sondern dazu, der immer überdrehteren Werbewelt um die Warschauer Brücke etwas entgegenzusetzen. Diese Hausfassade sollte Künstlern und Initiativen für künstlerische und basisorientierte Botschaften und Bilder zur Verfügung gestellt werden. Das wäre ein ungewöhnlicher Schritt, der gut zur besonderen Geschichte des Hauses passen würde. Das wäre wieder eine Friedrichshainer Vision – eine der kommunalen Beteiligung.

Ein Gedanke zu „Das Haus an der Warschauer Brücke – symptomatisch für Friedrichshain“

  1. Geschichtlich kann ich zu dem Haus wenig sagen. Zur heutigen Zeit allerdings einiges. Das Haus ist vermietet, keine einzige Eigentumswohnung ist vorhanden. Die Büros des Veganz befinden sich in einem umliegendem Haus, nicht in diesem. Die leuchtenden „Werbung“ war ein Kunstprojektes des oberen Mieters und hatte keinen kommerziellen Hintergrund. Schlecht recherchiert. Das subjektive Wunschdenken auch ideologisch komplett deplaziert. Ich wohne in dem Haus.

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