Hugenottenfamilien auf der Flucht | Quelle: Der Hugenotte. Zeitschrift 1922.

Seide und Blumenkohl

Hugenottenfamilien auf der Flucht | Quelle: Der Hugenotte. Zeitschrift 1922.
Erschütternde Erlebnisse prägten die Erinnerungen vieler hugenottischer Familien.
/ Quelle: Der Hugenotte. Zeitschrift 1922 /

Fremde Einflüsse in Friedrichshain.

Von

„Ong, drong, dree Katterkammersee Lemmer si, lemmer so. Die Kapelle Sanktimo Sanktimo de Colibri Colibri de Tepperi. Ong dong dree Areh“, lautete vor grauen Zeiten ein oft gehörter Kinderreim. War im Berlin des 13. Jahrhunderts die niederdeutsche oder plattdeutsche Sprache die Regel, so sickerte im 16. Jahrhundert über Zuwanderer die obersächsische Sprache ins Berlinisch ein. Bis es Ende des 18. Jahrhunderts im „Teutschen Merkur” hieß: „Die Berliner radebrechen ständig französisch, pudern, parfümieren sich, putzen sich heraus, gebärden sich rücksichtslos und prahlerisch.” Kurz nach 1800 revanchierten sich die „Berliner“ im „Gebildeten Hausknecht”: „So`n bisken Französisch, das macht sich ganz wunderschön, très aimable, sagt auch der Schnabel”.

Fremde willkommen!

Hugenottische Weißbierbrauerei in Berlin |  Quelle: Der Hugenotte. Zeitschrift 1922
In Friedrichshain wurden die Nachfahren der ersten Generation der Hugenotten auf vielen Gebieten tätig. / Quelle: Der Hugenotte. Zeitschrift 1922 /

Der tiefe Hintergrund dieser sprachlichen Veränderungen war das „Edikt von Potsdam“. Erlassen am 29. Oktober 1685, vom Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten von Brandenburg. Nach dem dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) war Berlin zur Ackerbürgerstadt mit cirka 12.000 Einwohnern geworden. Die ganze Region lag nach Missernten, Hungersnöten, Epidemien und den Zerstörungen des Krieges brach. Das Edikt erlaubte aus Frankreich flüchtenden Hugenotten, die als Protestanten in ihrem Heimatland schweren Verfolgungen ausgesetzt waren, die Zuwanderung nach Brandenburg und Berlin. Die erste Hugenottenkolonie vor dem Bernauer Tor von Alt-Landsberg ging wegen Mangels an Lebensmitteln und Geld ein. Die Menschen waren von geldgierigen Schiffseignern, dubiosen Fluchthelfern ausgenutzt und beraubt worden. Die Wenigsten verfügten über feste Schuhe oder warme Kleidung, dazu hatten sie ihre in Lumpen gewickelten Kinder dabei, die Bäuche vom Hunger geschwollen. Andere waren „bis auf den Tod erschöpft“ von der Cholera ausgemergelt. Der Kurfürst verfügte: „Alles was sie mitbringen, soll von Abgabe frei eingeführt werden können. Verfallene, verlassene Häuser und solche, deren Besitzer außer Landes sind, sollen, falls sie bauen wollen, als erbliches Eigentum übergeben werden, während die Besitzer durch kurfürstliche Regierung entschädigt werden sollen. Wenn sie neu bauen wollen, sollen ihnen geeignete Baustellen mit den dazugehörigen Gärten, Wiesen und den benötigten Baumaterialien überwiesen werden.“

Essbare Innovationen

Friedrich Wilhelms Initiative zielte nicht nur auf den allgemeinen Bevölkerungszuwachs ab. Frankreich war die führende Kulturnation Europas und die wirtschaftlichen Innovationen, welche die neuen Untertanen mitbrachten, waren wichtig für die Region. So bestand die Ernährung der Berliner hauptsächlich aus Brot, viel Schweinefleisch und Bier. Der Tag begann mit Bier und mit Bier endete der Tag. Gemüsenahrung war so gut wie unbekannt. Auch der Milchverbrauch war gering. Bei den als „Bohnenessern” verspotteten Franzosen, wie dem Kunstgärtner Ritter in der Blumenstraße 40, der für die Frühbestellung seiner Felder Mistbeete anlegte, kamen dagegen grüne Erbsen und Bohnen auf den Tisch. Die Gärtnerfamilie Bouché, einer der Nachbarn der Familie Ritter, erntete Spargel und Blumenkohl im Treibhaus. Zudem stellten die Gebrüder Bouché Herbarien für die Universität zusammen. 1832 nannte Adalbert von Chamisso nach der Familie Bouché eine Pflanzenart „Bouchea“.

Hugenottenfrau | Quelle: Der Hugenotte. Zeitschrift 1922
Nicht alle Flüchtlinge waren arm, manche konnten Hab und Gut retten.
/ Quelle: Der Hugenotte. Zeitschrift 1922 /

Schicke Innovationen!

Weniger freundlich wurde der Seidenwirker Menthe in der Blumenstraße 42 wahrgenommen. Seiden- und Strumpfwirker brachten für die Herstellung von Hosen und Strümpfen ihre speziellen Webstühle mit. Mit diesen war eine preisgünstige und auf schnell wechselnde Moden reagierende Produktion möglich. Die Aufstellung und Wartung der Webstühle erforderte die Kenntnisse von Stuhlschlossern und Stuhlsetzern, die in Berlin unbekannt waren. Die hiesigen Zünfte verweigerten den neuen Kollegen einen kostenlosen Zugang. Die neuen Strumpfwirker durften 15 Jahre als Freimeister arbeiten. Sie besaßen die Rechte eines Meisters, ohne an die Beschränkungen der Zunft gebunden zu sein. Der Brauch, Frauen und Kinder mitarbeiten zu lassen, führte zu Konflikten. Nach deutschen Zunftgesetzen war das verboten. Erst als die Réfugiés auf Kinder- und Frauenarbeit verzichteten, war eine Einigung erzielt und 1709 eine gemeinsame Strumpfwirkerzunft gegründet. Deren Vorstand teilte sich in die deutschen Balthasar Gottfried Schneider und Gottfried Kretzschmar und die französischen Altmeister Paul Aman und Francois Triarire. 1786 arbeiteten 106 Strumpfwirker in Berlin, sie betrieben 157 Webstühle. 1782 fertigten sie 65.312 Paar Baumwollstrümpfe und Handschuhe im Wert von 54.950 Talern an. Parallel existierten 32 Seidenstrumpfwirkereien, die außer Strümpfen ebenfalls Handschuhe herstellten. Sie erzielten 1782 einen Ertrag von 122.400 Talern. Spezialisten für „durchbrochene und gemusterte Strümpfe aus besonders feinem Material“, wie Meister Menthe in der Blumenstraße 42, richteten neben ihrer Werkstatt einen Musterraum für Einkäufer ein.

Pokal aus einer hugenottischen Familie | Quelle: Der Hugenotte. Zeitschrift 1922
Ein Pokal aus einer hugenottischen Familie. / Quelle: Der Hugenotte. Zeitschrift 1922 /

Expansionen

Der Händler Bartholz in der Blumenstraße 51 war einer von 82 französischen Kaufleuten seiner Zeit. Über die Kontakte zu Landsleuten, die ebenfalls Kaufleute waren, entstanden Berliner Handelsfirmen, wie etwa um 1700 die Modewarenhandlung „Bastide“. Pariser Damen liebten Berliner Produkte. Wegen eines Einfuhrverbotes kam die Ware nur auf Umwegen zu den Kundinnen. Die politischen Verhältnisse in Deutschland behinderten geschäftliche Expansionen. Weder war eine überregionale Wirtschaftsstruktur noch eine gemeinsame Währung vorhanden. 39 souveräne Wirtschaftsgebiete teilten das Land. Die Gilde der Tuch- und Seidenhandlung, sie hatte ihren Ursprung im Mittelalter, war mit den neuen Kaufleuten und „Fabrikanten“ eine große wirtschaftspolitische Kraft, die 1805 zur Gründung der „Berliner Börsenkooperation“ führte. Ein Zeichen gegen die deutsche Kleinstaaterei war gesetzt und überregionale Handelsbeziehungen wurden möglich. Im Berliner Alltagsleben blieben aber die verballhornten französischen Begriffe der Importschlager.

 

Was sagst Du dazu?

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert