Ein Lebenswerk auf dem Trödel
2019 kam Wolfgang in die Galerie und berichtete von einer Auktion, bei der die Arbeiten von Wittdorf versteigert würden. Die eigentliche Erbin, seine eine über 80-jährige Schwester, hatte das Erbe ausgeschlagen, denn er hatte erhebliche Schulden von der Pflege wegen seiner Demenz in den letzten Jahren. Ich wollte ein Bild ersteigern, vielleicht zwei Keramikteller. Aber es war keine Kunstauktion, sondern eine Nachlass-Haushaltsauflösungs-Auktion. Unfassbar: Das Lebenswerk von Jürgen Wittdorf war hier gelandet. Eine riesige vollgestopfte Halle. Wittdorfs Bilder hingen teils 40 Jahre in seiner Wohnung und waren sehr angegriffen. Ihr Transport zur Auktionshalle des Auktionshauses Beier war kein Kunsttransport gewesen. Möbelpacker hatten die Bilder auf den LKW gepackt, wobei viele Bilderrahmen kaputt gingen und Glas zerbrach. Aber die Arbeiten blieben unbeschädigt. Eigentlich ersteigern hier die Berliner „Trödelmarktprofis“ die Ware für die Trödelmärkte in der Stadt. Es war kurz davor, dass das Lebenswerk Wittdorfs über die Berliner Trödelmärkte verstreut worden wäre. Ich bot mit und statt eines Bildes hatte ich schließlich 200 gerahmte Bilder und 80 Keramikteller von Jürgen Wittdorf ersteigert. Nach der Auktion war ich vollständig erschöpft. Innerhalb von drei Tagen wollte ich das Un-Zeiten alles abholen. Aber die Frau an der Kasse sagte: „Also 18 Uhr muss die Halle besenrein sein!“ Ich war fix und fertig, organisierte mit Freunden den Transport zur Galerie. Seitdem bin ich dabei, alles zu dokumentieren und die Rahmen aufzubereiten. Zum Glück bin ich gelernter Tischler und habe an der Komischen Oper gelernt, wie das geht. Das habe ich jetzt so gut wie hinter mir. Fast alle Bilder sind wieder aufgearbeitet. Jede freie Stunde bin ich in meiner kleinen Werkstatt. Warum ich diese Arbeit auf mich genommen habe? Ich kann das schlecht beschreiben. Es ist wie eine Aufgabe, die mir bestimmt ist. Ich bin in Friedrichshain geboren. Wittdorf war ein Künstler aus Friedrichshain. Er war mein Zeichenlehrer. Dann die Begegnung an der Studio Galerie. Der Tod und die Auktion, bei der ich mitgeboten habe, was ich eigentlich nicht geplant hatte. Aber nur so konnte sein Werk umfassend erhalten werden.
Ein Blick auf ungewollte Realitäten
Wittdorf hatte die Jugendlichen in der DDR 1962 in seinem „Zyklus für die Jugend“ rebellisch gezeigt und war damit zunächst bei den Kulturfunktionären angeeckt. Jugendliche in Jeans und Lederjacke, „Halbstarke“ und knapp bekleidete Mädchen, frontale Nacktheit waren nicht im Sinn der Kulturfunktionäre und wurden als „Verwestlichung“ stigmatisiert. Die Kritiker lenkten ein, als sie der positiven Resonanz in der Jugend gewahr wurden, denn die Jugendlichen mochten die Ausdrucksweise. Wittdorf wurde bekannter und die Funktionäre erkannten seine Kraft. Seine Holzschnitte wurden in verschiedenen Mappen gedruckt. „Zyklus für die Jugend“ war seine erfolgreichste. Es gab auch den Zyklus „Tiermütter“ und andere.
An der Akademie der Künste in Ost-Berlin war Wittdorf von 1967 bis 1969 Meisterschüler bei Lea Grundig. Anfangs wohnte er im Bezirk Lichtenberg, später in Friedrichshain am Petersburger Platz, dann in der Kreutzigerstraße. Wittdorf arbeitete freischaffend und hatte regelmäßig Ausstellungen. Zeitgleich war er bis 1991 Zeichenlehrer im Haus der Jungen Talente und im Haus des Lehrers. Die Institute wurden geschlossen. Wie so viele Künstler aus der DDR war auch Wittdorf plötzlich auf staatliche Unterstützung angewiesen.