Julius Berstl: Berlin Schlesischer Bahnhof.
Eine Rezension von
Ob nun vom Flugplatz Tempelhof die ersten Passagierflugzeuge abhoben, in den großen Kinopalästen Monumentalfilme wie „Metropolis“ aufgeführt wurden oder Architekten und Designer zukunftsträchtige Formgebungen kreierten, himmelsstürmend waren sie, die Zwanzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch abseits der Startbahnen in eine vermeintlich bessere Zukunft lebten jene, auf die kein Schlaglicht fiel. Mochte der Film „Mutter Krauses Fahrt ins Glück“ oder der Film „Kuhle Wampe“ dieses Dunkel kurz aufhellen, im Schatten der Zeit blieben jene, die in der Großstadt Berlin Zuflucht fanden.
Sie, das sind Kurt Heinersdorf, Fritz Knelke, Lotte Streit, Paul Mielenz und Alfred Schütte. Ihnen, diesen knapp oder kaum Zwanzigjährigen, widmete der Autor Julius Berstl seine Aufmerksamkeit. Mag er sich dabei auf den ersten Blick stilistisch an Döblins Berlin Alexanderplatz angelehnt haben, so wird der Leser hier weder zum Berlin am Alexanderplatz geführt noch zum Berlin der schicken Geschäfte und Bars am Kurfürstendamm, sondern dorthin, wo Berlin sehr düster wie auch vielversprechend war: zum Berlin am Schlesischen Bahnhof, der heute Ostbahnhof genannt wird. Ein Berlin, wo im Januar und März 1919 Bomben und Sprengminen auf Wohnviertel geworfen wurden. In jener Zeit war der Schlesische Bahnhof das, was man heute einen Hotspot nennen würde. Ein Hotspot der Suchenden, der Verzweifelten oder der Flüchtigen wie diese fünf, die vor dem Gymnasium, der unerträglichen Jugendbewahranstalt, dem übergriffigen Elternhaus oder einfach nur von einer Arbeitsstelle, die nicht das bot, was vom Leben erwartet wurde, abgehauen sind. Und wie nicht anders zu erwarten, führt der Weg der fünf vom Schlesischen Bahnhof weg. Weit weg in den glitzernden Westen, hin zum KaDeWe, aber auch ins Labyrinth der Nebenstraßen mit seinen Abgründen und Irritationen. Alles wird mit hohem Tempo, in stenografischen Kürzeln gleichen Ortsbeschreibungen und einer Folge von aufleuchtenden Eindrücken oder verschwimmenden Bildern geschildert. Intensiviert wird die Erzählung mit Sätzen wie:
„Na, junge Frau, schönet Aaleken mitnehmen? Der Jemahl wird mit die Zunge bibbern vor Delikatesse.“
„Wat kost’n Fund?“
„Weil Sie et sind, 1,50.“
„Kost’ bei Tietzen nur 1,30.“
„Denn jehnse doch hin bei Tietzen, Madam. Theo, komm doch ma schnell. Kieck dir die an, will for Tietzen Reklame machen. Jehnse weiter Madam, jehnse weiter, hier is der reele Verkauf. Hier wird nich jeblufft.“
Oder: Nur die lange Bertha in der Ecke lacht nicht mit. Veteranin der Liebe. Die schläft vor ihrem Ohio-Cocktail. Einer von den Ganoven grölt: „’t liecht eene Leiche in Landwehrkanal, lang se mir mal her, aber knautsch se nich so sehr.“
Die Lola protestiert.
„Lasst das lange Luder schlafen. Wat hat die noch von’t Leben? Schlafen und Koksen. Schlaf man, ollet Reff .“
Sie streicht ihr mit der Hand über den grauhaarigen Bubiopf.
„Die is schon uff ’n Strich jejangen, wo ihr noch in die Windeln jekackt habt, jrüne Jungs.“
Es ist dieser Jargon, den Julius Berstl eingefangen hat und der seinen Roman eher zu einem Zeitbild denn einem Stadtroman werden lässt. Aber dieser Jargon wurde für ihn selber zu einem Stück Heimat, als er im Juli 1936 wegen seiner jüdischen Abstammung Deutschland verlassen musste. Dank der Hilfe der Society of Friends ging er zuerst in die Niederlande, etwas später nach London. Während des Zweiten Weltkrieges war er für die BBC tätig, für die er fast 60 Hörspiele verfasste. 1947 erhielt er den britischen Pass, siedelte nach New York um und wurde 1960 zum amerikanischen Staatsbürger. 1975 ereilte ihn der Tod im Kalifornischen Santa Barbara.
Der Stil von „Berlin Schlesischer Bahnhof“ war auch für Berstl ein Ausbruch aus einem angestammten Gefilde. Berstl war in der Kaiserzeit wie auch in den Zwanzigerjahren kein Unbekannter, sondern ein viel gefragter Autor von Theater- Unterhaltungs-Literatur. Seine Stücke wurden in vielen großen und kleinen Theatern aufgeführt. Was dieses Buch wertvoll macht, ist neben den zeitgenössischen Eindrücken vor allem der breitzitierte Dialekt, der heute allenfalls noch rudimentär vorhanden und doch nach wie vor ein Markenzeichen der Stadt Berlin ist.