„Die Warte“, November 1931

Orgasmus und Revolution

Wilhelm Reich in Wien, Fotograf: Ludwig Gutmann | Quelle: Wikimedia Commens
Wilhelm Reich in Wien.
Der gefragte Wiener Fotograf Ludwig Gutmann, der sich einen Namen mit Schauspielerfotos gemacht hatte, fotografierte auch das Psychoanalytische Ambulatorium, in dem Sigmund Freud und Wilhelm Reich zusammen tätig waren. Gutmann wurde wegen seiner jüdischen Herkunft 1939 enteignet und 1943 in Theresienstadt ermordet. / Quelle: Wikimedia Commons /

Wilhelm Reich in Berlin-Friedrichshain.

von Andreas Peglau

Sexualberatung ist keine Erfindung der 1968er Jahre. Es gab sie schon für Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen in den engen, ungesunden Wohnquartieren Berlins der Weimarer Zeit. Eine wesentliche Rolle dabei spielte Wilhelm Reich (1897-1957), der zu den herausragenden Gestalten der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts gehört. In den 1920er Jahren in Wien einer der wichtigsten Mitstreiter Sigmund Freuds, vertiefte er insbesondere die psychoanalytische Gesellschaftstheorie und Therapiemethodik, entwickelte letztere dann zur Körperpsychotherapie. 1927 trat er der Sozialdemokratischen Partei Österreichs bei, bald darauf auch der Kommunistischen Partei. Schon in Wien bemühte er sich um eine „linke“ Einheitsfront gegen den aufkommenden Faschismus, verband in seinen Schriften Psychoanalyse und Marxismus, veröffentlichte Aufklärungsbroschüren, führte Sexualberatungen durch.

Sexualreform in Deutschland

1930 zog er nach Berlin. Hier wurde er umgehend KPD-Mitglied, galt als einer der besten Dozenten der weithin bekannten Marxistischen Arbeiterschule, engagierte sich gegen den Abtreibungsparagraphen 218 – und gehörte zum Leitungsgremium einer KP-Massenorganisation, den Einheitsverbänden für proletarische Sexualreform und Mutterschutz.
Auf Initiative der KPD war am 2. Mai 1931 in Düsseldorf der erste dieser Einheitsverbände gegründet worden. Später entstanden entsprechende Organisationen im Ruhrgebiet, in Sachsen sowie in den Regionen Halle-Merseburg, Mittelrhein und Berlin. Durch diese Einheitsverbände, deren Gesamtmitgliederzahl sich für Ende 1932 auf mindestens 20.000 schätzen lässt, sollten die diversen deutschen Sexualorganisationen „durch Anschluß an die Kommunistische Partei […] zu einem einheitlichen sexualpolitischen Verband zusammengeschmolzen werden“, so Reich. Der KPD ging es dabei weniger um gesunde Sexualität als darum, breite Bevölkerungskreise zu erreichen und sie gleichzeitig der SPD abspenstig zu machen. Immerhin hatten sich den deutschen Sexualreformorganisationen bis dahin mehr als 300.000 Menschen angeschlossen.
Schon die Düsseldorfer Gründungsversammlung im Mai 1931 wurde von Reich inhaltlich dominiert. Er hatte ein Aktionsprogramm dafür vorbereitet und hielt das einleitende Referat. Er gehörte dann auch zu der sechsköpfigen „Reichsleitung“ der Einheitsverbände, „Einheitskomitee für proletarische Sexualreform“ genannt. Dieses residierte in der Burgstraße 28 V, Zimmer 162 an der Spree, gegenüber der Museumsinsel.
Reichs Wirkungsfeld umfasste sowohl verschiedene Städte und Regionen Deutschlands als auch ganz Berlin. Hier hielt er nicht nur Vorträge, er leitete zugleich mehrere Beratungsstellen.

2 Gedanken zu „Orgasmus und Revolution“

  1. Lieber Andreas,
    Ich hoffe, dass du wohlauf bist und es dir gut geht.
    Vielen Dank für den sehr informativen Artikel. (Wie auch Deine Besprechung des Films von Hinchey.)
    Ich muß zugeben, dass ich immer einen gewissen Zweifel an den 20-30 tausend Mitglieder der Sexpol Bewegung hatte. Die bessere Bezeichnung wäre ja wohl „Einheitskommitee für proletarische Sexualreform“. Ich bin eines besseren belehrt. Danke für Deine fantastische Recherche , die Reichs frühe Arbeit aus dem bewußten Verschweigen und Negieren durch Psychoanalyse und wie auch von politischer Seite wissenschaftlich belegt aus der Vergessenheit herausholt.
    Herzliche Gruesse
    Klaus Stinshoff

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