Sexualberatung …
Der Arzt und Sexualreformer Hans Lehfeldt berichtete 1932: „Die Beratungsstellen des Einheitsverbandes in Berlin, die von Dr. Reich gegründet wurden, haben die psychoanalytische Behandlung von Sexualkonflikten zu ihrer besonderen Aufgabe gemacht.“ Wie zuvor schon in Wien dürften sich auch andere „linke“ Psychoanalytiker daran beteiligt haben.
Über die Beratungstätigkeit wurde auch in der Vereinszeitschrift des Einheitsverbands „Die Warte“ informiert. So hieß es in der Novemberausgabe 1931: „Das Einheitskomitee für proletarische Sexualreform hat im Oktober in Berlin drei Sexualberatungsstellen, die von geschulten Ärzten geleitet werden, eröffnet […]: Norden: Dienstag, 6–8 Uhr, Müllerstraße 143 a, 1. Treppe. Osten: Dienstag, 6–7.30 Uhr, Kadiner Straße 17 (Lokal „Welt am Abend“). Zentrum: 6–8 Uhr, Kronprinzenufer 23, Parterre links.“ Im März 1932 wurden zusätzlich zur Müllerstraße zwei andere Adressen angegeben: „Lichtenberg, Friedrich-Karl-Straße 23, Freitags, 7–9 Uhr“ und „Mitte, Friedrichstraße 121, 3 Treppen rechts, Mittwochs von 5–7 Uhr“. In einer früheren Ausgabe der Warte wurde die Romintener Str. 6 genannt.
… in Friedrichshain
Für drei dieser Beratungsstellen lassen sich Adressen im heutigen Friedrichshain nachweisen: Kadiner Str. 17, Colbesstr. 23, die ehemalige Friedrich-Karl-Straße, bis 1938 Lichtenberg und Grünberger Str. 14, die ehemalige Romintener Straße. Vermutlich zog die Letztere dann in die Kadiner Straße um. Zwei dieser Häuser sind erhalten geblieben: in der Colbestraße und der Grünberger Straße – siehe Foto.
Wie sehr sich Reichs Ansatz von der sonstigen Sexualberatung unterschied, auch von der, die durch andere KP-Massenorganisationen durchgeführt wurde, verdeutlicht ein Bericht von 1931. Dort wird geschildert, wie Frauen aus der von der Internationalen Arbeiterhilfe getragenen Beratungsstelle Wedding zurückkamen: „mit freudigerem, frohem Gesichtsausdruck“, unter andrem, „weil sie nun nicht mehr dem Mann die ‚eheliche Pflicht‘ verweigern und somit fremden Frauen in die Arme zu treiben“ brauchten. Die Institution Ehe wurde somit als einzig legitimer Ort sexueller Verwirklichung betrachtet, die sexuelle Verfügbarkeit der Ehefrau vorausgesetzt. Reich hingegen ging es um die Verhütung bzw. Linderung von Neurosen und sexuellen Störungen sowie um die Schaffung von Möglichkeiten für beide Partner, durch lustvolle Betätigung inklusive Orgasmus leiblich und seelisch zu entspannen. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau war dabei für ihn eine ebenso selbstverständliche Basis wie die Notwendigkeit, die sexuelle Zwangsgemeinschaft, wie sie die Ehe für viele bedeutete, abzuschaffen und durch freiere und freiwillige Partnerschaftsbeziehungen zu ersetzen.
„Freie“ Liebe?
Worum es ihm allerdings niemals ging, war das, was viele „68er“ dann in seine Schriften hineindeuteten und als „freie Liebe“ propagierten. Reich schrieb 1946: „Wenn unterdrückte Menschen das Wort frei verwenden, so meinen sie damit stets ein wahlloses Herumficken.“ Aber Reich wusste auch: Nur psychisch gesunde Menschen sind in der Lage, gesunde soziale Verhältnisse herzustellen, Revolutionen zu nachhaltigem Erfolg zu führen. Und zu dieser psychischen Gesundheit gehört eben auch sexueller Genuss.
Lieber Andreas,
Ich hoffe, dass du wohlauf bist und es dir gut geht.
Vielen Dank für den sehr informativen Artikel. (Wie auch Deine Besprechung des Films von Hinchey.)
Ich muß zugeben, dass ich immer einen gewissen Zweifel an den 20-30 tausend Mitglieder der Sexpol Bewegung hatte. Die bessere Bezeichnung wäre ja wohl „Einheitskommitee für proletarische Sexualreform“. Ich bin eines besseren belehrt. Danke für Deine fantastische Recherche , die Reichs frühe Arbeit aus dem bewußten Verschweigen und Negieren durch Psychoanalyse und wie auch von politischer Seite wissenschaftlich belegt aus der Vergessenheit herausholt.
Herzliche Gruesse
Klaus Stinshoff
Danke lieber Andreas! Sehr informativ und toll recherchiert. Viele Grüße Heike