Ein Stück erlebtes Berlin.
von Marianne Wachtmann.
Eine kleine Gaststätte in der Petersburger Straße 81 am Baltenplatz im Zentrum eines Arbeiterviertels des Berlins um die Jahrhundertwende hat ihre Geschichte. Sie prägte das Leben einer großen fleißigen Familie und spiegelt auch ein kleines Stück der Entwicklung Berlins in der Gründerzeit zum Ende des 19. Jahrhunderts wider.
Steine für die große Stadt
Zu dieser Zeit wurden die ersten Häuser um den damaligen Baltenplatz und die kreuzende Petersburger Straße gebaut. Der spätere Besitzer der dortigen kleinen Gaststätte, August Kirsch, am 30. Juni 1861 in Striegau geboren, lebte noch in Schlesien. Als junger, kräftiger Mann verdiente er im Steinbruch Geld durch schwere körperliche Arbeit. Hier wurden Gehwegplatten und Kantensteine für die Bürgersteige der neuen Straßen Berlins aus dem Granit des schlesischen Berglandes geschlagen. Schön und zweckmäßig sind diese Steine noch heute in manchen alten Straßen Berlins und auch noch um den Baltenplatz (heute: Bersarinplatz) zu sehen.
Nach Berlin!
Als August Kirsch sich eine gute Summe Geldes gespart hatte, seine Frau Katharina, geboren am 2. Juli 1865, die von ihm nur Anna genannt wurde und deren falscher Name noch auf einem alten Grabstein auf dem Friedrichsfelder Friedhof zu lesen ist, drei Kinder geboren hatte, zog es ihn in die Großstadt Berlin, um dort ein besseres und schöneres Leben zu finden. Ein mutiges Unternehmen für die damalige Zeit, so eine große Entfernung von der Heimat nach dem für ihn unbekannten Berlin zurückzulegen, mit nur etwas Geld, mit Fleiß und Unternehmungsgeist. Bei größter Sparsamkeit reichte das ersparte Geld gerade dazu, um sich in der Warschauer Straße ein kleines Geschäft zu mieten und dort mit der Familie einen Gemüseverkauf zu eröffnen. Der Laden ernährte die Familie, die in der Zwischenzeit auf sieben Kinder angewachsen war. Die eine Stube und die Küche, die zum Laden gehörten, wurden zu eng. Die jüngste Tochter Frieda, geboren am 2. April 1905, schlief in einer Gemüsekiste, die nachts, wenn der Platz am engsten war, auf den Hängeboden geschoben wurde.
Bescheidener Wohlstand
Nun bot sich für August Kirsch die Gelegenheit, ganz in der Nähe eine Gaststätte zu erwerben. Das war die Frühstücksstube am Baltenplatz. Es war selbstverständlich, dass es ein Familienbetrieb wurde. Die Söhne Wilhelm und Richard, geboren 1896 und 1898, unterstützten den Vater, die Mutter und die Tochter Bertha, geboren 1895, sorgten für das Essen, denn in einer Berliner Kneipe gab es auch Würstchen, Hering, Bouletten, saure Gurken und Schusterjungen. Mit dieser Auswahl sowie einer Molle und einen Korn – wenn das Geld reichte, auch mal mehr – waren Arbeiter in der damaligen Zeit zufrieden. Wichtig für manche war jedoch auch, dass sie bei August Kirsch ein offenes Ohr für ihre Sorgen fanden und ein Gespräch in vertrauter Runde der Stammkundschaft führen konnten.
Wichtig war der Kontakt mit den Menschen
Die älteste Tochter Ida, geboren am 8. Dezember 1890, war mit 14 Jahren bereits aus dem Haus gegangen, in die Lehre als Fleischermamsell in Kost und Logis zu einem Fleischermeister in Friedrichsfelde, der die Würstchen für August Kirsch lieferte. Später lieferte die Würstchen der Schwiegersohn Wilhelm Wiencke, der mit der Tochter Ida eine kleine Fleischerei in der Zorndorfer Straße 19 (heute Mühsamstraße), also fast um die Ecke betrieb. Die Söhne heirateten ebenfalls und gingen eigene Wege. Es blieben nur die Töchter Bertha und Frieda zu Hause in der Gaststätte. 1918, als Berlin nach dem 1.Weltkrieg wieder aufblühte, wurden die Pferdedroschken immer mehr, um die großen Entfernungen in der Stadt und den Ausflugsverkehr zu bewältigen. Im Weidenweg, unmittelbar am Baltenplatz, war daher eine Pferdedroschken-Haltestelle eingerichtet worden. Die Pferde und die Kutscher machten hier Pause und stärkten sich in der Frühstücksstube bei August Kirsch. Das Geschäft ging gut, alle hatten viel zu tun. Aber noch wichtiger war der Kontakt mit den Menschen. Es wurde bei Bier und Korn manches geplauscht über Politik, die wirtschaftlichen Verhältnisse oder auch über persönliche Sorgen. Höhepunkt war jedoch immer die Weihnachtszeit. Das große Vereinszimmer neben dem Schankraum war nicht nur der Treffpunkt der ganzen großen Familie mit Kindern und Enkelkindern, sondern auch für die armen Leute, die keine warme Stube oder kein Geld für eine eigene Weihnachtsfeier hatten. Sie kamen zu August Kirsch und wurden in die Familie aufgenommen.
Die Geschichte geht weiter
August Kirsch starb am 11. Mai 1931. Danach wurde die Gaststätte verkauft und von anderen bis 1944 weiter bewirtschaftet, als das Haus durch Bomben in Trümmer fiel. 1931 eröffnete Tochter Frieda ein Geschäft im gleichen Kiez, ein Seifengeschäft, wie es damals hieß, in der Elbinger Straße (heute Danziger Straße) und nahm die Mutter zu sich. Wieder fand eine treue Kundschaft bei Mitgliedern der Familie Kirsch ein gutes Angebot und ein freundliches Wort auch zu persönlichen Dingen, bis 1968 das Geschäft aus Altersgründen aufgegeben wurde.
So löste sich mit der Zeit alles auf. Nur die Enkeltochter Elli zog 1936 aus alter Tradition und Verbundenheit zum Kiez in die Löwestraße 20 (heute Löwestraße 6a). Daher sind auch mir die Einzelheiten der Entwicklung unserer Familie noch gegenwärtig aus Erzählungen und eigener Anschauung. Die Kindheit mit allen schrecklichen Kriegsereignissen habe ich hier erlebt und auch meinen Kindern konnte ich noch die bis 1979 bewohnte Mietskaserne zeigen. Dann wurde das Haus wegen Baufälligkeit abgerissen. Heute wächst Gras über dem Vergangenen. Alle anderen Nachkommen des August Kirsch schreiben jetzt ihre eigene zuversichtlichere Geschichte. Aber am Baltenplatz wurde im Zuge der neuen Bebauung des damaligen Bersarinplatzes wieder eine Gaststätte an gleicher Stelle eröffnet, die es inzwischen aber auch nicht mehr gibt.