Stralauer Momente.
Von Erhard Weinholz.
Mit der Liebe ist es manchmal sonderbar: Man arbeitet mit einer Kollegin oder einem Kollegen Jahr und Tag zusammen, merkt irgendwann auch, dass Sie oder Er ganz sympathisch ist, doch es passiert nichts. Und dann auf einmal, beim Betriebsausflug nach Rummelsburg oder bei der Brigadefeier in Kochs Speisenwirtschaft, kommt die Sache klammheimlich – die anderen dürfen natürlich nichts merken – zum Knallen. So oder zumindest so ähnlich ist es mir mit Stralau gegangen, dessen einstigem Charakter ich lange nachgetrauert habe.
Kennengelernt habe ich den Ort in den frühen Siebzigern als Student. Ich war nämlich gesundheitlich angeschlagen, war daher auch – ich hätte jauchzen können vor Freude, als der Musterungsarzt es mir eröffnete – dauernd wehrdienstuntauglich und absolvierte im zweiten Studienjahr einmal wöchentlich in der Turnhalle des Kinderheims Alt-Stralau eine Art Versehrtensport: Unter der milden Herrschaft eines alten Fachdozenten verrichteten wir in der niedrigen und stets dämmrigen Halle auf staubigen, vermutlich seit Jahrzehnten nicht gereinigten Matten unsere Übungen. Ansonsten sah ich keinen Grund, in Stralau zu verweilen.
Das Heim war für uns bequem mit dem Bus zu erreichen. Lange Zeit fuhr der 82er durch Stralau, endete aber schon am Markgrafendamm als Zubringer zur Straßenbahn gleicher Nummer, mit der man von Mahlsdorf-Süd, vorausgesetzt, man ließ es an Geduld nicht fehlen, bis ins östliche Stadtinnere, zum Dönhoffplatz gelangte. An der Spreeseite des Ostbahnhofs erinnerten noch bis vor einigen Jahren ein paar ins Straßenpflaster eingelassene Schienen an diese Linie. In den Siebzigern konnte ich schon am Frankfurter Tor in den 34er steigen; auf dem Rückweg warteten wir nahe beim Heim vor einer Kneipe in der Tunnelstraße, es war wohl die einzige in ganz Stralau. Gern hätte ich gewusst, wie sie hieß, und so habe ich unlängst in meinem alten Fernsprechbuch für die Hauptstadt Berlin sämtliche Gaststätteneinträge durchgesehen, jedoch vergebens. Dieses Fernsprechbuch war das Geschenk eines Freundes, der nun schon lange tot ist; es gehört zu meinen Lieblingsbüchern. Während ich so auf den Bus wartete, hatte ich mir manches Mal vorgenommen, in dieser Kneipe, die, wie es aussieht, namenlos bleiben muss, irgendwann ein Bier zu trinken. Diese Absicht war über Jahre hinweg das einzige, was mich mit Stralau verband. Doch es wurde nie etwas daraus. Denn als gelegentlicher Müßiggänger, zu dem ich in den Achtzigern wurde, war ich dort immer vormittags unterwegs, zu früh für ein Bier in diesem Lokal. Der Müßiggang war ja damals eine Sache der Außenseiter, der Wenigen also, die in einer Mischung aus Lust und schlechtem Gewissen ihr Sonderdasein auch dadurch bewiesen, dass sie zu Tageszeiten herumschlenderten, an denen andere sich mühen und plagen mussten. Das Abseitige der Stralauer Halbinsel passte zu diesem Außenseiterdasein bestens und erschloss sich am ehesten, wenn man zu Fuß unterwegs war. So lief ich nun vom Bahnhof Ostkreuz den Markgrafendamm entlang Richtung Süden, bog kurz vor der vielbefahrenen Elsenbrücke nach links, unterquerte den Bahndamm und begab mich in einen Teil unseres Landes, in dem die Zeit noch langsamer als sonst überall vergangen zu sein schien. Selten nur zeigte sich ein Auto auf der schlaglochreichen Straße, viel alter Putz war am Bröckeln, und in einem weiß gestrichenen Fünfziger-Jahre-Bau fand ich in einem kleinen Lebensmittelladen Dinge, die anderswo gerade ausverkauft waren, Kapern zum Beispiel oder chinesischen Tee in bunten Blechdosen. Es gab aber auch ein DDR-typisches verdächtiges Objekt: Ein Stück hinter der Kirche stand ein hässlicher Kasten mit etwas Grün drumherum an der Straße; wer ihn nutzte, war nicht zu erkennen, nirgendwo ein Schild und an den Grundstücksecken Scheinwerfer Marke Grenzsicherung. War die Spitze der Halbinsel erreicht, sah man zur Rechten hinter Bäumen das Riesenrad vom Plänterwald, zur Linken als Sinnbild des Fortschritts, den es ja auch gab, das rekonstruierte Kraftwerk Klingenberg, das nun Fernwärme für die vielen Neubauten draußen im Osten lieferte und gemächlich seinen Rauch in den Himmel blies.
So war es, und man konnte meinen, es sei für immer, doch es sollte nicht so bleiben: 1990 kam die Währungsunion, und bald waren sämtliche Betriebe Stralaus geschlossen, die Glashütte, die gleich daneben gelegene Engelhardt-Brauerei, die Werft … Stralau wurde zum Abenteuerspielplatz, man konnte mit etwas Geschick in zuvor unzugängliches Gelände eindringen und in den verlassenen Anlagen herumstöbern. Viel zu entdecken gab es allerdings nicht, die Werksanlagen waren nur noch leere Gehäuse. Zu jener Zeit war ich meist mit dem Fahrrad dort unterwegs, mal nachmittags, mal am frühen Abend. Ich fotografierte viel. Mit dem Bier wurde es auch jetzt nichts: Die Kneipe machte ebenfalls dicht. Geblieben war die Karl-Marx-Gedenkstätte mit Blick nach Treptow hinüber; in dem längst verschwundenen Bauernhaus auf dem Grundstück hatte Marx vor bald zweihundert Jahren ein paar Monate als Student gewohnt. Manchmal saß hier ein altes Ehepaar am Ufer und trank Schnaps.
Auch so, wie es nun war, blieb es nicht. 1993 hatte der Senat die Idee, die Olympischen Spiele des Jahres 2000 nach Berlin zu holen. In Stralau sollte das Olympische Dorf entstehen, schon bald begann der Abriss der Altbauten, kurz darauf drehten sich hier und da die ersten Kräne. In der Bewerbungskampagne ging vieles schief. Als Maskottchen hatte man eine Schnecke…?, einen Schmetterling?, nein, natürlich den Bären gewählt. Er hatte es nicht leicht, musste, wie in der zitty damals zu lesen war, Schmiergelder annehmen (oder verteilen?), mit dem DFB-Chef saufen, aus irgendwelchen Gründen Bruno Ganz als Hitler-Darsteller doubeln … es war zu viel: Er begann zu koksen. Doch er hatte Glück: Berlin flog aus dem Rennen. Gebaut wurde trotzdem. Warum auch nicht – die Stadt ist so groß, da kommt es auf eine langweilige Gegend mehr oder weniger nicht an.