Streit um die Oberbaumbrücke
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Karl P. saß vor seinem Computer, ausgerüstet mit 4 Megabyte und schrieb an einem wichtigen Brief. Zwischendurch blickte er auf den Fernseher. Dort lief ein Film über den Hitlerattentäter Georg Elser. Unvermittelt brach der Film wegen einer Direktübertragung aus Warschau ab. Helmut Kohl gab eine Pressekonferenz, der Karl P. keine Aufmerksamkeit schenkte. Aber dann, in der Spätausgabe der Tagesschau, kam ein Live-Bericht vom Grenzübergang Bornholmer Str. Die Grenze war geöffnet, johlende Menschen winkten in die Kamera, der Reporter sagte, auch die Oberbaumbrücke wäre geöffnet. Karl P. mochte es nicht glauben und lief dorthin. Tatsächlich, überall Menschen. Dunkel erinnerte sich Karl P. an ein Berlin ohne Mauer. Und stand inmitten von Menschen, die berlinerten. Er als Westberliner hatte sich das längst abgewöhnt. Er wurde nach dem „Reichskanzlerplatz“ gefragt, für ihn die Erinnerung an Wechselstuben, Ausflügen zum Tierpark wegen günstiger Preise zum Wechselkurs und an alte Lehrer mit NS-Vergangenheit. Am 18. November 1989 passierten etwa 50.000 Fußgänger die Oberbaumbrücke in Richtung Kreuzberg und etwa 45.000 in Richtung Friedrichshain. Kontrollen gegen „Schieber und Spekulanten“ gab es dennoch, Unterwäsche, Strümpfe, Bettwäsche wurden beschlagnahmt, eine Handgranate im Gepäck gefunden.
Bereits am 7. Dezember rief die „Grüne Partei“ der DDR zusammen mit der Westberliner „Alternativen Liste“ zu einer Demonstration vom Frankfurter Tor zur Oberbaumbrücke gegen Neofaschismus und Ausländerfeindlichkeit auf.
Zum ersten gemeinsamen Sylvester versammelten sich hunderte Feierlustige an der Oberbaumbrücke und wurden böse, als sie nicht „rüber machen“ konnten. Brennende Bauwagen und LKW, jede Menge Flaschenscherben auf der Straße und ein Großeinsatz von Polizei und Feuerwehr war das Ergebnis. Am 20. April 1991 versammelten sich etwa 1.000 Personen zur ersten bezirksübergreifenden antifaschistischen Demonstration vom Kottbusser Tor über die Oberbaumbrücke zum Nöldnerplatz in Lichtenberg.