Die Boxhagener Straße in Berlin-Friedrichshain | Quelle: Postkarte

Klare Verhältnisse

Die Boxhagener Straße in Berlin-Friedrichshain | Quelle: Postkarte
Friedlich und unscheinbar war die Boxhagener Straße an manchen Tagen. / Quelle: Postkarte /

Schießereien und anderes in der Boxhagener Straße.

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Die Zeitung „Montag Morgen“ berichtete am 15. Juni 1931: „Wieder Schwerverletzte im Osten Berlins, blutige Schießerei zwischen Radikalen!“ Am Vormittag des Vortages hatten SA-Leute den „Völkischen Beobachter“ an Spaziergänger in der Boxhagener Straße verteilt. Schnell waren die Verteiler von Passanten umringt. Meistens waren es Sonntagsspaziergänger, die ihre Ruhe haben wollten. Die Menschenmenge, sie reichte bis auf die Warschauer Straße, geriet in Streit. Und genau in dem Augenblick, als Polizisten am Ort erschienen, fielen Schüsse. Die SA-Leute brachen zusammen. Die Polizisten verfolgten drei Verdächtige, einer rannte in einen offenen Hauseingang an der Warschauer Straße. Ein Polizist folgte ihm bis auf den Dachboden und konnte den Mann stellen. Bernhard Porwol hieß der Mann. Er hielt eine „Ortgies-Pistole“ in der Hand. Eine Taschenpistole, die häufig bei der Berliner Schutzpolizei zu finden war. Der 22jährige Tischler Porwol besaß keinen Waffenschein. In der Vernehmung sagte er: „Die Waffe habe ich für 40 oder 50 Reichsmark von einem Unbekannten gekauft“ – „Warum?“ – „Ich wollte mir was zu Weihnachten schenken.“

Geschenk ohne Funktion

Am 15. August 1931 stand Porwol vor Gericht, das keinen Beweis dafür erbringen konnte, dass er einer der beiden verfeindeten politischen Gruppen angehörte oder Polizisten bedroht habe. Wegen unbefugtem Waffenbesitz kam er mit sechs Monaten Gefängnis davon. Verdächtig war, dass mit ihm der Landarbeiter Jacob Stiebeling und der Fräser Oskar Hartmann „versucht hatten, den Streit zu schlichten.“ Der Staatsanwalt warf beiden vor, „an der öffentlichen Zusammenrottung einer Menschenmenge, welche mit vereinten Kräften Gewalttätigkeiten gegen Personen beging, teilgenommen zu haben, und zwar als diejenigen, welche Gewalttätigkeiten gegen Personen begangen haben.“ Nur, dass es dafür eben keinen Beweis gab.
Am 9. Juli 1933 wurde das Verfahren gegen die drei neu aufgerollt. Ein Zeuge aus München sagte aus, Jacob Stiebeling hätte auf die Verteiler des „Völkischen Beobachter“ geschossen, die schwer verletzt im Krankenhaus Friedrichshain von jüdischen Ärzten notversorgt wurden. Außerdem habe Stiebeling auf einen Polizisten geschossen. „Um die vielen Ausflügler nicht zu gefährden, schoß ich nicht zurück“, kam vom Polizisten. Dafür war ein anderer Polizist in Zivil beim Versuch, einen der SA-Leute zu schützen, von einer Pistolenkugel am Rücken verletzt worden. Am 10. Juli kamen weitere Augenzeugen zu Wort, jeder bezog sich auf Kleidungsmerkmale unterschiedlicher Personen. Am 11. Juli 1933 wurden Porwol, Stiebeling und Hartmann frei gesprochen. Laut Ermittlungsakten von 1931, waren alle drei im Besitz unbenutzter Waffen. Völlig unklar blieb, wer geschossen hatte.

Die Boxhagener Straße in Berlin-Friedrichshain | Quelle: Postkarte
Doch hinter der Beschaulichkeit lauerte Tödliches.
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„Anständige“ Beziehungen

1934 wurde die SA wegen ihrer Machtansprüche Hitler lästig, kurzerhand ließ er Führer der SA im Sommer auf dem Gelände der Kaserne der „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ in Berlin-Lichterfelde erschießen. Traditionell war die Reichswehr zur Bewachung des Reichskanzlers abgestellt, doch Hitler als neuer Reichskanzler war misstrauisch. Er verlangte von der „Leibstandarte“ bewacht zu werden, sie galt als repräsentative Eliteeinheit. Sie war für Heinz Kaufmann ein Antrieb. Er gehörte im Juni 1933 zu den Gründern des Bonner SS-Ortsverbandes und kam Anfang 1934 zur dieser Einheit. Mit seinem Kameraden Siegfried Napiralla kam er im Sommer 1934 im Seifenladen nahe der Kaserne mit der beim Amtsrat Voigt Hausangestellten Irma Overbeck ins Gespräch. Siegfried machte auf Irma Eindruck.
Bald gingen sie miteinander, bis Siegfried einmal brutal über sie herfiel und die 19jährige zum Sex zwang. Irma war unfähig, sich zu wehren. Davon erfuhr Heinz. Er war „anständig“, mit ihm konnte Irma reden und er schrieb ihr glühende Liebesbriefe. Sie fasste Mut, sich von Siegfried zu lösen.
Mit Heinz wurde sie ein Paar. Eine „gute Braut“, neben dem „aufrechten“ Heinz, als der er von seinem Hauptscharführer gesehen wurde. Im September 1935 erfuhr sie nach einer Blinddarmoperation, sie hätte eine Gebärmutterknickung und könne deshalb nicht schwanger werden. Aber im Dezember 1936 musste sie Heinz darum bitten, sie zu heiraten, denn sie wäre trotzdem „verfallen“. Schlagartig zog sich Heinz zurück, sagte, er wäre verlobt und die Heirat beschlossen.
Irmas Bauch wurde dicker, sie verlor ihre Stellung, fand keine Arbeit und zog zu ihrer Freundin Erna in der Boxhagener Straße 24. Die lebte dort mit Mann und Sohn. Heinz ließ sich kaum noch blicken, gab kein Geld zur Unterstützung, Erna teilte ihr Haushaltsgeld mit Irma. Kurz vor der Geburt wollte Heinz sich „aussprechen“ und lockte Irma unter Vorwänden ans dunkle Havelufer bei Pichelsdorf, es passierte aber nichts. Wegen ihrer Kopfschmerzen gab er ihr starke Schlafmittel, die sie nicht nahm. Am 13. August gebar Irma ihre Tochter Anita, den Namen gab ihr Heinz.

Zweierlei Maß

Am 21. Dezember 1937 standen Polizisten vor dem Haus Boxhagener Straße 24. Anita war tot. „Sie wäre ihm aus der Hand gefallen“, sagte Heinz. Im Zuge der Ermittlungen wurden an „geeigneten Kindesleichen“ Versuche unternommen, wie die Verletzungen von Anita zustande gekommen waren. Anhand dieser Versuche wurde bewiesen, dass Heinz mit massiven Faustschlägen das Kind umgebracht hatte.
Am 6. November 1938 wurde die Tat als „unmenschlich, roh und abstoßend“ vom Gericht bezeichnet und es verhängte 12 Jahre Zuchthaus gegen Heinz. Während des „Ostfeldzuges“ verübten SS-Leute ähnliche und schlimmere Verbrechen an Kindern, die, wenn überhaupt, nach dem Krieg nur geringfügig geahndet wurden. Heinz zettelte 1940 ein Gefängnisaufstand an und wurde 1940 hingerichtet.
Erna und Irma kamen in den letzten Kriegswochen im Bombenhagel um.

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