Simon-Dach-Straße 12.
Von
Klein und ärgerlich
Aus dem flimmernden Halbdunkel war die „dicke Kanone“ gut zu hören: „Se steht da mit een Jesichtsausdruck. Een Jesichtausdruck!! Un, wie der Lord nu wieder rin kommt, un seiner über allet jeliebten Deisie det ant’ Jesicht ansieht, wat de vorhat, da sacht er…“ und hier unterbrach Willy Beyrisch-Teilbach seinen Vortrag, widmete sich seinen Zuhörern: „Ick mecht doch die beeden Herrn da vorn noch mal int alljemeine Interesse bitten, det Roochen einzustellen“, um sich dann wieder der Filmhandlung zuzuwenden: „Da sacht er: Denk an mir, un an det von deinem Kinde, bevor de sowat tust.“
Mit und ohne Ton
Willy Beyrisch-Teilbach, genannt „die dicke Kanone“, gehörte zu den beliebtesten Filmrezitatoren der Friedrichshainer und Weddinger Kinolandschaft, die aus großen Filmtheatern und kleinen Kinos gestaltet war. Wegen ihrer „verwildernden“ Reklamen waren letztere den anspruchsvollen Kinogängern ein Gräuel: „Mord wird in all’ seinen Abarten und in seiner widerlichsten Weise dargestellt. Die ausgegossene Säureflasche, der bei lebenden Leib Verbrannte, bilden oft die beliebtesten Plakatentwürfe. Dazu Dirnen- und Zuhältergesichter. Neben den visuellen Reizen locken als akustischer Reiz laute Lachsalven das Publikum ins Ladenlokal, wo, von zwei Bogenlampen an der Front beleuchtet, schlecht geklebte Plakate auf die nächsten Vorführungen hinweisen. Von ungelenkter Hand geschriebene Programme werden verteilt. Mit greller Stimme bieten in den Pausen halbwüchsige Kinder Schokolade an. Rasch werden sie ihre Leckereien an Frauen und Mädchen los. Bier in unzähligen Mengen geht an durstige Männerkehlen. Bierbretter neben den Klappstühlen nehmen die Gläser auf.“ Verschreckt nahmen die bürgerlichen Kinofreunde wahr: „Nicht nur der ‚Rekommandeur‘, sondern auch der Film ‚Nachtgestalten‘ wurde mit lauten Rufen begrüßt. Nur um die Film-Handlung in ihrem Sinne zu erweitern, ergänzten die Zuschauer während der Vorführung die Kommentare des Erklärers um eigene Beiträge.“ „Rekommandeure“, das waren Rummelbudenausrufer und die ersten „Film-Erklärer“. Die Filmproduzenten skizzierten: „Trotz größter schauspielerischer Leistung ist es nicht möglich, die Handlung allein durch Gebärdenspiel verständlich zu machen. Jene geheimen Fäden auszudrücken, die zwischen den verschiedenen Seelenregungen spielen, würde eine bis ins Einzelne und fein nünacierte Gebärdensprache voraussetzen, die zu genießen nur ein überkultiviertes Publikum sich erschließen könnte.“ Stellungslose Schauspieler sahen hier eine Einkommensquelle. „Die dicke Kanone“ war per Rezitation in der Lage, darzustellen, wie ein Betrunkener nach Hause kommt, schlafend für das Opfer eines Mörders gehalten wird, um dann noch akustisch in die Rolle der Mutter, des Vaters, des Detektivs, der Ehefrau und einer den Kranz bringenden Nachbarin zu schlüpfen. Stars wie Willy Beyrisch-Teilbach verdienten bis zu 60 Mark in der Woche; für manche Zuschauer war das ein Monatsverdienst. Dazu kamen Stullenpackete, Zigarren und Trinkgelder.
Gründer Wilhelm
Hulke war Musiker und rührig im Theatergewerbe, etwa als Regisseur beim Alt-Moabiter „Apollo-Theater“. 1896 widmete er sich dem Filmgeschäft und wurde zum Mitinhaber von „Theatern lebender, sprechender und singender Photografien“. Das größte lag an der Frankfurter Allee 1 – 2. 1910 eröffnete er das „Biograph-Theater“ mit 200 Sitzplätzen in der Simon-Dach-Straße 12. Unter diversen Besitzern existierte das Kino als „Biophon-Theater“ bis 1926. Reinhold Wosseng, ein weiterer Eigner, kreierte einen neuen Namen: „Simon-Dach-Lichtspiele“ und erweiterte die Spielstätte um eine kleine Bühne. 1929 übernahm Franz Neuenschwander das Kino. Er ließ eine Tonanlage installieren und benannte sein Kino 1932 in „Tempo-Lichtspiele“ um. 1934 wurde Alfred Horstmann der Besitzer und musste feststellen: Seine Gäste mochten keine von der NS-Ideologie geprägten Filme. Sie wollten „leichte Unterhaltung“ schauen, die ihm der Tobis-Filmverleih zunehmend verweigerte. Erst nach seinen Protesten beim Propagandaministerium durfte er wieder „ältere Filme“ zeigen. Schwieriger noch, die Gäste mochten ausschließlich den Hauptfilm sehen. Anders als vorgeschrieben, zeigte Horstmann nun die Wochenschauen nach dem Hauptfilm. Das meldete ein SS-Mann weiter. Nur der Kriegsbeginn verhinderte die Schließung des als „Systemrelevant“ eingestuften Kinos.
Konkurrenz
Hannelore Rojan als Besitzerin der „Tempo-Lichtspiele“ verkaufte für 170 Sitzplätze vier Sorten von Eintrittskarten. Für 0,25 Mark die grünroten und die rosanen, für 0,50 Mark die gelben, für 1 Mark die roten, Freikarten gab es keine. 1958 behaupteten sich acht Friedrichshainer Kinos im Privatbesitz gegen sechs, die dem „VEB Filmtheater“ angehörten. Diese sollten „das Lichtspielwesen zur Kultureinrichtung weiter entwickeln und eine „Abwanderung nach den Kinos in West-Berlin verhindern“. „Das Mädchen Rosemarie“ war mit ausverkauften Vorstellungen ein Kassenmagnet der „Privaten Kinos“. Mit nur 10 Besuchern waren „Die Töchter der Partei“ eine Besucherpleite der „VEB Kinos.“ „Kein Einzelfall, sondern ein typischer“, hieß es auf SED-Leitungsebene und es wurde angeregt, sozialistische Brigaden für den Film „Ein Menschenschicksal“ zu werben. Dann kam ein Bericht des „VEB Filmtheater“ vom 20. August 1959 zum Ergebnis: Die „Tempo-Lichtspiele dürften wegen der mangelhaften Ausstattung und aus Rentabilitätsgründen nicht mehr fortgeführt werden.“ Ein Bürgermeisterbescheid vom 16. Oktober 1959 befahl: „Die Tempo-Lichtspiele sollen sofort aufgelöst und geprüft werden, ob die Räume an eine Sportorganisation gehen können. Im Zuge der Schließung ist es erwünscht, dass die am Gebäude äußerlich erkennbare Kinobezeichnung mit verschwindet.“ Fortan nutzte ein Kino in der Gleimstraße die ERKO-Vorführgeräte. Frau Rojahn ging nach Westberlin und leitete von 1964 bis zum Jahr 2000 die „Eva-Lichtspiele“ in der Blissestraße 18. In den einstigen Räumen der „Tempo-Lichtspiele“ residiert heute ein Restaurant.